Illuminati - Dan Brown - Kapitel 4
gab. Der Posten schob den Ausweis in einen elektronischen Scanner. Die Maschine blinkte grün.
»Name des Passagiers?«
»Robert Langdon«, antwortete der Fahrer.
»Gast von?«
»Direktor Kohler.«
Der Wachtposten hob die Augenbrauen. Er wandte sich um, blätterte durch einen Computerausdruck und verglich die Daten mit den Anzeigen auf seinem Monitor. Dann wandte er sich wieder dem Fenster zu. »Einen angenehmen Aufenthalt, Professor Langdon.«
Der Wagen raste erneut los und beschleunigte bis kurz vor einen Kreisverkehr, von dem aus es zum Haupteingang der Anlage ging. Vor ihnen ragte eine rechteckige, ultramoderne Konstruktion aus Stahl und Glas auf. Langdon war hingerissen von dem transparenten Design. Er hatte schon immer eine Vorliebe für großzügige Architektur gehabt.
»Die Glaskathedrale«, erklärte sein Begleiter.
»Eine Kirche?«
»Oh, nein. Wir haben hier fast alles, nur keine Kirche. Unsere Religion heißt Physik. Sie können so viele gotteslästerliche Flüche ausstoßen, wie Sie wollen.« Der Fahrer lachte. »Aber wagen Sie nicht, etwas gegen Quarks oder Mesonen zu sagen.«
Langdon schwieg benommen, während der Fahrer den Wagen durch den Kreisel lenkte und vor dem Glasgebäude hielt. Quarks und Mesonen? Keine Passkontrolle? Mach-15-Jets? Wer, zur Hölle, sind diese Leute?
Die große behauene Granitplatte vor dem Gebäude gab ihm die Antwort:
Cern
Conseil Européen pour la
Recherche Nucléaire
»Nukleare Forschung?«, fragte Langdon und war ziemlich sicher, dass seine Übersetzung korrekt war.
Der Fahrer antwortete nicht. Er hatte sich vorgebeugt und drehte an den Knöpfen des Kassettenspielers. »So, wir sind da. Der Direktor wird Sie am Eingang in Empfang nehmen.«
Langdon sah einen Mann in einem Rollstuhl aus dem Gebäude kommen. Er sah aus wie Anfang sechzig, hager, vollkommen kahl und mit strengem Gesichtsausdruck. Er trug einen weißen Laborkittel, und seine Schuhe waren fest in die Fußstütze des Rollstuhls gestemmt. Selbst auf die Entfernung wirkten seine Augen leblos wie graue Steine.
»Das ist er?«, fragte Langdon.
Der Fahrer blickte auf. »Also, wenn das nicht …« Er wandte sich zu Langdon um und grinste beunruhigend. »Wenn man vom Teufel spricht …«
Unsicher, was ihn erwartete, stieg Robert Langdon aus dem Wagen.
Der Mann im Rollstuhl kam auf ihn zu und reichte ihm eine feuchtkalte Hand. »Mr. Langdon? Wir haben miteinander telefoniert. Ich bin Maximilian Kohler.«
7.
Maximilian Kohler, Generaldirektor von cern, wurde hinter seinem Rücken »der König« genannt. Es war ein Titel, der mehr von Furcht zeugte denn von Ehrerbietung für einen Mann, der sein Reich vom Rollstuhl aus regierte. Nur wenige kannten Kohler persönlich, doch jeder bei cern hatte die schreckliche Geschichte gehört, wie es zu seiner Verkrüppelung gekommen war, und kaum jemand machte ihm seine Bitterkeit zum Vorwurf … genauso wenig wie seine völlige Hingabe an die reine Wissenschaft.
Langdon kannte den Direktor erst seit wenigen Augenblicken und spürte bereits jetzt, dass Kohler ein sehr distanzierter Mensch war. Langdon musste beinahe rennen, um mit Kohlers elektrischem Rollstuhl Schritt zu halten, als dieser lautlos auf den Eingang zuglitt. Einen solchen Rollstuhl hatte Langdon noch nie gesehen; er war ausgestattet mit einer ganzen Batterie elektronischer Geräte einschließlich Mobiltelefon, Pager, Computerbildschirm, selbst einer kleinen transportablen Videokamera. König Kohlers mobiles Kommandozentrum.
Langdon folgte Kohler durch eine mechanische Tür in die gewaltige Eingangshalle von cern.
Die Glaskathedrale, sinnierte Langdon und starrte himmelwärts.
Das bläuliche Glasdach glänzte im Licht der Nachmittagssonne. Die geometrischen Schatten der Sonnenstrahlen verliehen dem Raum eine Aura von Erhabenheit, und regelmäßige Muster aus Licht und Schatten überzogen die weißen Wände und den Marmorboden. Die Luft roch rein, beinahe steril. Eine Hand voll Wissenschaftler bewegte sich zielstrebig hin und her, und ihre Schritte hallten von den Wänden wider.
»Hier entlang bitte, Mr. Langdon.« Kohlers Stimme klang fast, als stammte sie aus einem Computer. Seine Aussprache war hart und präzise, sie passte zu seinen strengen Gesichtszügen. Kohler hustete und wischte sich mit einem weißen Taschentuch über den Mund, während er Langdon mit seinen toten grauen Augen fixierte. »Bitte beeilen Sie sich.« Der Rollstuhl schien über den weißen Marmorboden zu schweben.
Langdon folgte ihm durch scheinbar endlose Gänge und Korridore, in denen ausnahmslos hektische Betriebsamkeit herrschte. Die Wissenschaftler, die ihnen unterwegs begegneten, starrten Langdon überrascht an, als fragten sie sich, wer er war, dass er solche Aufmerksamkeit erhielt.
»Ich gestehe zu meiner Schande«, sagte Langdon in dem Versuch, Konversation zu machen, »dass ich noch nie etwas von cern gehört habe.«
»Das überrascht mich nicht«, erwiderte Kohler. Seine abgehackte Antwort klang nüchtern und emotionslos. »Die meisten Amerikaner sehen Europa nicht als führende wissenschaftliche Kraft in der Welt. Für sie ist Europa nichts weiter als eine abgelegene Gegend, wo man billig einkaufen kann – eine merkwürdige Einstellung, wenn man bedenkt, dass Männer wie Einstein, Galileo oder Newton alle Europäer waren.«
Langdon wusste nicht recht, wie er darauf antworten sollte. Er zog das Fax aus der Jackentasche. »Dieser Mann auf dem Foto – könnten Sie …?«
Kohler schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Nicht hier, bitte. Ich bringe Sie jetzt zu der Stelle.« Er streckte Langdon die Hand hin. »Vielleicht sollte ich das wieder an mich nehmen.«
Langdon reichte ihm das Fax und trottete schweigend hinter dem Rollstuhl her.
Kohler bog nach links in einen breiten, hohen Korridor, dessen Wände mit zahllosen Urkunden und Auszeichnungen geschmückt waren. Der Eingang wurde von einer besonders großen Plakette beherrscht. Langdon verlangsamte seinen Schritt, um die in Bronze gravierte Inschrift im Vorübergehen zu lesen:
Ars Electronica Award
Für kulturelle Innovation im Digitalen Zeitalter
Verliehen an Tim Berners und cern
Für die Erfindung des
WorLd Wide Web
Ich will verdammt sein, dachte Langdon, als er den Text las. Dieser Typ hat keinen Scherz gemacht! Langdon hatte immer gedacht, das Web sei eine amerikanische Erfindung. Andererseits waren seine Kenntnisse auf die Seite für seine eigenen Bücher und gelegentliche Online-Besuche im Louvre oder Prado beschränkt, die er mit seinem alten MacIntosh unternahm.
»Das Web«, sagte Kohler, hustete erneut und wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund, »hat hier seinen Anfang genommen, als ein Netzwerk von lokalen Computern. Dadurch waren Wissenschaftler aus verschiedenen Abteilungen imstande, ihre neuesten Erkenntnisse miteinander zu teilen. Heute glaubt die ganze Welt, das Internet wäre eine Erfindung der Amerikaner.«
Langdon folgte Kohler weiter durch den Gang. »Warum unternehmen Sie nichts, um das richtig zu stellen?«
Kohler zuckte scheinbar desinteressiert die Schultern. »Eine unbedeutende Fehleinschätzung einer unbedeutenden Technologie. cern ist weit mehr als eine globale Vernetzung von Computern. Unsere Wissenschaftler produzieren fast täglich neue Wunder.«
Langdon starrte Kohler fragend an. »Wunder?« Das Wort »Wunder« gehörte sicherlich nicht zum allgemeinen Vokabular im Fairchild Science Building von Harvard. Wunder waren im Allgemeinen den theologischen Fakultäten vorbehalten.
»Sie scheinen skeptisch zu sein«, sagte Kohler. »Ich dachte, Sie wären Spezialist für religiöse Symbolologie. Glauben Sie denn nicht an Wunder?«
»Ich weiß nicht recht, was ich von Wundern halten soll«, erwiderte Langdon. Insbesondere von Wundern, die aus den Labors der Wissenschaft kommen.
»Wunder ist vielleicht auch das falsche Wort. Ich habe versucht, in Ihrer Sprache zu sprechen.«
»Meiner Sprache?« Plötzlich fühlte Langdon sich unbehaglich. »Ich möchte Sie nicht enttäuschen, Sir, aber ich studiere religiöse Symbolologie – ich bin Wissenschaftler und kein Priester.«
Kohler verlangsamte seine Fahrt. Er wandte sich zu Langdon um, und sein Blick wurde eine Spur freundlicher. »Selbstverständlich. Wie dumm von mir. Man muss schließlich nicht an Krebs leiden, um seine Symptome zu analysieren.«
So hatte Langdon die Sache noch nie betrachtet.
Sie setzten ihren Weg durch den Korridor fort, und Kohler nickte einlenkend. »Ich glaube, wir werden uns sehr gut verstehen, Mr. Langdon.«
Irgendwie zweifelte Langdon daran.
Sie eilten weiter, und unvermittelt hörte Langdon ein tiefes Rumpeln ein Stück voraus. Das Geräusch wurde mit jedem Schritt lauter, bis die Wände selbst vibrierten. Es schien vom Ende des Korridors zu kommen.
»Was ist das?«, fragte Langdon schließlich und musste fast schreien. Es klang, als näherten sie sich einem aktiven Vulkan.
»Ein Freifallschacht«, erwiderte Kohler mit einer Stimme, die mühelos den Lärm durchschnitt. Auf eine weitere Erklärung wartete Langdon vergeblich.
Er fragte auch nicht nach. Er war erschöpft, und Maximilian Kohler schien kein Interesse daran zu haben, einen Preis für herausragende Gastfreundschaft zu gewinnen. Langdon rief sich den Grund für seine Anwesenheit ins Gedächtnis. Illuminati. Er nahm an, dass irgendwo in dieser gewaltigen Einrichtung ein Leichnam lag … ein Leichnam mit einem Brandmal, das zu sehen er fünftausend Kilometer weit geflogen war.
Sie näherten sich dem Ende des Korridors, und das Rumpeln wurde ohrenbetäubend. Der Boden vibrierte unter Langdons Füßen. Sie umrundeten eine Biegung, und zur Rechten erstreckte sich eine Aussichtsgalerie. Vier Fenster mit dicken Scheiben waren in eine runde Wand eingelassen wie Bullaugen in einem Unterseeboot. Langdon blieb stehen und warf einen Blick auf das, was dahinter lag.
Professor Robert Langdon hatte in seinem Leben schon eine Reihe von merkwürdigen Dingen gesehen, doch was er nun sah, war mit Abstand das Merkwürdigste. Er blinzelte ein paar Mal und fragte sich, ob er unter Halluzinationen leide. Er starrte hinaus in eine weite, runde Kammer. Im Innern der Kammer schwebten Menschen, als wären sie schwerelos. Drei Leute. Einer von ihnen winkte und schlug mitten in der Luft einen Salto.
Mein Gott, dachte Langdon. Ich bin im Land Oz.
Den Boden der Kammer bildete ein Gitter, das aussah wie ein gewaltiger Maschendraht. Unter dem Gitter erkannte Langdon das metallische Flirren eines gigantischen Propellers.
»Der Freifallschacht«, sagte Kohler. Er hatte angehalten und wartete auf Langdon. »Indoor-Fallschirmspringen. Zum Stressabbau. Ein ganz gewöhnlicher Windkanal, aber vertikal ausgerichtet.«
Sprachlos beobachtete Langdon das Geschehen in der Kammer. Eine der drei Personen, eine dicke Frau, manövrierte auf das Fenster zu. Die Luftströmungen zerrten an ihr, doch sie grinste und winkte Langdon mit erhobenem Daumen. Langdon lächelte schwach und fragte sich, ob sie wusste, dass der Daumen ein altes phallisches Symbol für Virilität war.
Langdon bemerkte, dass die korpulente Frau die Einzige war, die eine Art Mini-Fallschirm trug. Das Stück Stoff blähte sich über ihr wie ein Spielzeugsegel. »Wozu ist der kleine Fallschirm?«, fragte er Kohler. »Er kann höchstens einen Meter Durchmesser haben.«
»Reibung«, erwiderte Kohler. »Er verringert ihre