Illuminati - Dan Brown - Kapitel 32
Wenn diese Zeichen an öffentlichen Orten angebracht waren, hätte doch jemand im Vatikan sie entschlüsseln müssen, oder nicht?«
»Sicher«, erwiderte Langdon. »Wenn sie gewusst hätten, wonach sie suchen mussten. Doch das wussten sie nicht. Und die Zeichen fielen ihnen niemals auf, weil die Illuminati sie so erschaffen hatten, dass die Kleriker nicht im Traum auf den Gedanken gekommen wären, es könnte sich um getarnte Wegweiser handeln. Sie benutzten eine Methode, die in der Symbolologie als Dissimulation bekannt ist.«
»Camouflage.«
Langdon war beeindruckt. »Sie kennen den Ausdruck?«
»Dissimulazione«, sagte sie. »Die beste Verteidigungsmaßnahme in der Natur. Versuchen Sie einen Trompetenfisch zu sehen, der sich aufrecht schwimmend zwischen Seegras versteckt.«
»Ich verstehe«, sagte Langdon. »Die Illuminati jedenfalls benutzten das gleiche Konzept. Sie schufen Zeichen, die für unwissende Augen vor dem Hintergrund des alten Rom unsichtbar waren. Sie konnten keine Ambigramme und keine wissenschaftliche Symbolik benutzen, weil das viel zu verdächtig gewesen wäre. Also riefen sie einen begnadeten Künstler – den gleichen unbekannten Meister, der auch das Ambigramm des Namens ›Illuminati‹ erschaffen hatte – und beauftragten ihn, vier Skulpturen zu erschaffen.«
»Illuminati-Skulpturen?«
»Genau. Skulpturen, die zwei strengen Richtlinien entsprechen mussten. Erstens, sie mussten genauso aussehen wie die übrigen Kunstwerke im alten Rom … Kunstwerke, von denen der Vatikan niemals vermutet hätte, dass sie mit den Illuminati in Verbindung standen.«
»Religiöse Kunstwerke.«
Langdon nickte. Seine Erregung stieg, und er redete schneller. »Die zweite Richtlinie war, dass die vier Skulpturen sehr spezifische Themen darzustellen hatten. Jedes Stück musste ein subtiler Tribut an die vier Elemente der Wissenschaft sein.«
»Vier Elemente?«, fragte Vittoria. »Aber es gibt über hundert!«
»Nicht im siebzehnten Jahrhundert«, erinnerte Langdon. »Die frühen Alchimisten glaubten, dass das gesamte Universum aus nicht mehr als vier Substanzen bestehe: Erde, Feuer, Wasser, Luft.«
Das frühe Kreuz, so wusste Langdon, war das am meisten verbreitete Symbol der vier gegensätzlichen Elemente – vier Arme, die Erde, Luft, Feuer und Wasser repräsentierten. Im Lauf der Geschichte hatte es Hunderte weiterer Symbole für die vier Elemente gegeben – die pythagoreischen Lebenszyklen, das chinesische Hong-Fan, die männlichen und weiblichen Rudimente nach Jung, die Quadranten des Tierkreises; selbst die Moslems hatten die vier antiken Elemente verehrt, auch wenn sie im Islam als »Plätze, Wolken, Blitze und Wellen« bekannt waren. Für Langdon war es eher der modernere Gebrauch der Symbole, der ihm Schauer über den Rücken laufen ließ – die vier mystischen Zeichen der Absoluten Initiation der Freimaurer: Erde, Luft, Feuer, Wasser.
Vittoria schien verwirrt. »Also hat dieser Illuminati-Künstler vier Werke erschaffen, die bei oberflächlicher Betrachtung religiös aussahen, aber in Wirklichkeit ein Tribut an Erde, Luft, Feuer und Wasser waren?«
»Ganz recht«, sagte Langdon, während sie in die Via Sentinel einbogen, die zu den Archiven führte. »Die Skulpturen fielen in dem Meer religiöser Kunstwerke in Rom überhaupt nicht auf. Die Bruderschaft spendete die Werke anonym an vier ausgewählte Kirchen und benutzte ihren politischen Einfluss, um die Aufstellung zu überwachen. Jedes dieser Werke war ein Wegweiser, der unauffällig zur nächsten Kirche deutete, wo ein weiterer Wegweiser wartete. Eine Spur aus Hinweisen, getarnt als religiöse Kunst. Falls es einem Kandidaten gelang, die erste Kirche zu finden und mit ihr das Symbol für ›Erde‹, konnte er ihm zur ›Luft‹ und von dort aus zum ›Feuer‹ und zum ›Wasser‹ folgen und schließlich zur Kirche der Illumination.«
Vittorias Verwirrung nahm immer weiter zu. »Und das alles soll uns zu dem Assassinen führen?«
Langdon lächelte und spielte seinen Trumpf aus. »O ja. Die Illuminati hatten einen besonderen Namen für diese vier Kirchen. Sie nannten sie die ›Altäre der Wissenschaft‹.«
Vittoria runzelte die Stirn. »Es tut mir wirklich Leid, aber das sagt mir …« Sie stockte. »L’altare di Scienza!«, rief sie dann. »Der Assassine hat gesagt, die Kardinäle würden als jungfräuliche Opfer auf den Altären der Wissenschaft sterben!«
Langdon grinste. »Vier Kardinäle. Vier Kirchen. Die vier Altäre der Wissenschaft.«
Sie schaute ihn benommen an. »Sie glauben, die vier Kirchen, in denen die Kardinäle geopfert werden sollen, sind die gleichen, die den alten Weg der Illumination beschreiben?«
»Das glaube ich, ja.«
»Aber warum hätte uns der Assassine diesen Hinweis geben sollen?«
»Warum nicht?«, entgegnete Langdon. »Nur sehr wenige Historiker wissen von diesen Skulpturen, und noch weniger glauben, dass sie je existiert haben, ganz zu schweigen davon, dass die Orte, an denen sie stehen, vierhundert Jahre lang geheim geblieben sind. Zweifellos vertrauen die Illuminati darauf, dass dieses Geheimnis auch noch fünf weitere Stunden überdauert. Außerdem brauchen sie ihren Weg zur Erleuchtung nicht länger, und ihr geheimer Treffpunkt existiert bestimmt nicht mehr. Wir leben in einer modernen Welt. Heutzutage treffen sie sich in Vorstandszimmern und Konferenzräumen, gehen zusammen essen oder Golf spielen. Und heute Nacht wollen sie ihre Existenz der Weltöffentlichkeit enthüllen. Dies ist der Augenblick, auf den sie so lange gewartet haben. Ihr großer Auftritt.«
Langdon befürchtete, dass dieser Augenblick einer besonderen Symmetrie gehorchen könnte, von der er noch nichts erwähnt hatte. Die vier Brandzeichen. Der Mörder hatte gesagt, jeder der vier Kardinäle würde mit einem anderen Symbol gebrandmarkt. »Beweis dafür, dass die alten Legenden wahr sind«, hatte er gesagt. Die Legende der vier ambigrammatischen Brandzeichen war so alt wie die Illuminati selbst: Erde, Luft, Feuer und Wasser – vier Worte, geschaffen in perfekter Symmetrie. Genau wie das Illuminati-Ambigramm. Jeder der Kardinäle würde mit einem der antiken Elemente der Wissenschaft gebrandmarkt werden. Die Gerüchte, dass die vier Brandzeichen die englischen Worte zeigten, nicht die alten italienischen, wurden unter Historikern heftig diskutiert. Englisch erschien als eine willkürliche Abweichung von ihrer Muttersprache – und die Illuminati taten nichts Willkürliches.
Langdon gelangte auf den gepflasterten Vorplatz vor dem Archivgebäude. Schaurige Bilder geisterten durch seinen Verstand. Die gewaltige Verschwörung der Illuminati begann endlich ihre Größe zu enthüllen. Die Bruderschaft hatte geschworen, im Untergrund zu bleiben und dort genügend Macht und Einfluss zu sammeln, bis sie ohne Furcht zurückkehren und im hellen Tageslicht ihren Feinden trotzen konnte. Die Illuminati versteckten sich nicht mehr. Sie stellten ihre Macht zur Schau und bestätigten die konspirativen Mythen als Tatsachen. Heute Nacht planten sie einen Auftritt, der ihnen das Interesse der Weltöffentlichkeit sichern sollte.
»Dort kommt unsere Eskorte!«, sagte Vittoria.
Langdon blickte auf und bemerkte einen Hellebardier, der über den Rasen in Richtung Eingang eilte.
Als er Langdon und Vittoria bemerkte, blieb er wie angewurzelt stehen. Er starrte sie an, als wären sie Halluzinationen. Ohne ein Wort wandte er sich ab und zerrte sein Walkie-Talkie hervor. Offensichtlich konnte er nicht glauben, was er von seinem Vorgesetzten zu hören bekam, denn er redete aufgeregt auf die Person am anderen Ende ein. Das ärgerliche Bellen, das aus dem Lautsprecher des Geräts drang, war für Langdon und Vittoria unverständlich, doch an der Bedeutung gab es keinen Zweifel. Der Schweizergardist schien zu resignieren. Er steckte das Walkie-Talkie wieder ein und wandte sich mit einem Ausdruck der Missbilligung zu Langdon und Vittoria um.
Er redete nicht ein Wort, während er die beiden in das Gebäude begleitete. Sie passierten vier Stahltüren und zwei weitere verschlossene Türen, dann stiegen sie eine Treppe hinunter und erreichten ein Foyer. Der Gardist tippte Kodes in zwei Tastenfelder, und sie gingen durch eine Reihe elektronischer Detektoren, bevor sie schließlich am Ende eines langen Korridors vor eine große Doppeltür aus Eiche gelangten. Der Schweizergardist blieb stehen, murmelte etwas Unverständliches und öffnete eine in die Wand neben der Tür eingelassene Metallklappe. Er tippte einen Kode auf die Tastatur dahinter, und an der Tür ertönte ein Summen.
Der Gardist öffnete die Tür und wandte sich zu ihnen um. Zum ersten Mal sprach er direkt zu ihnen. »Die Archive befinden sich hinter dieser Tür. Man hat mich instruiert, Sie bis hierher zu geleiten und anschließend zurückzukehren.«
»Sie gehen wieder?«, fragte Vittoria überrascht.
»Die Schweizergarde hat keinen Zutritt zu den Geheimarchiven. Sie beide sind nur deswegen hier, weil mein Kommandant einem direkten Befehl des Camerlengo Folge leisten muss.«
»Aber wie kommen wir wieder heraus?«
»Die Sicherheitsmaßnahmen beschränken sich auf den Zutritt. Sie werden keine Probleme haben.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte durch den langen Gang davon.
Vittoria murmelte einen Kommentar, doch Langdon hörte nicht mehr zu. Seine Gedanken kreisten um das, was hinter den mächtigen Doppeltüren auf ihn wartete, auf die Geheimnisse, die dort verborgen schlummerten.
47.
Obwohl die Zeit knapp war, bewegte sich Camerlengo Carlo Ventresca ohne große Eile. Er brauchte die Zeit, um sich vor dem Eröffnungsgebet zu sammeln. Es geschah so viel auf einmal. Während er in düsterer Einsamkeit durch den Nordflügel ging, spürte er die Anstrengung der vergangenen fünfzehn Tage in den Knochen.
Er war seinen heiligen Pflichten buchstabengetreu nachgekommen.
Wie es die vatikanische Tradition verlangte, hatte der Camerlengo persönlich den Tod des Papstes bestätigt, indem er einen Finger an die Halsschlagader gelegt, auf seinen Atem gelauscht und schließlich dreimal den Namen des Papstes gerufen hatte. Nach dem Gesetz gab es keine Autopsie.
Hernach hatte er das Schlafzimmer des Papstes verriegelt, den päpstlichen Fischerring und den Rohling für das Siegel zerstört und die Vorbereitungen für die Bestattung und das anschließende Konklave getroffen.
Konklave, dachte er. Die letzte Hürde. Es war eine der ältesten Traditionen des Christentums. Das Konklave wurde heutzutage häufig kritisiert, weil das Ergebnis in der Regel feststand, bevor das Konklave begonnen hatte – mehr eine Burleske als eine wirkliche Wahl. Der Camerlengo wusste, dass nur ein Mangel an Verständnis für diese Kritik verantwortlich war. Das Konklave war mehr als eine Wahl. Es war ein alter, mystischer Transfer von Macht. Die Tradition war zeitlos … die Heimlichkeit, die gefalteten Blätter, das Verbrennen der Stimmzettel, die Mischung alter Chemikalien, die Rauchsignale.
Während der Camerlengo die Loggien von Gregor XIII. durchschritt, überlegte er, ob Kardinal Mortati bereits in Panik war. Ohne Zweifel hatte der Zeremonienmeister inzwischen bemerkt, dass die vier preferiti fehlten. Ohne sie würde das Konklave die ganze Nacht andauern. Mortatis Ernennung zum Zeremonienmeister war