Illuminati - Dan Brown - Kapitel 31
der Kardinäle gefunden. Wenn schon der Glaube eines geweihten Priesters nicht vor dem satanischen Bösen schützte, welche Hoffnung gab es dann für den Rest der Christenheit? Die pochenden Schmerzen in seinem Kopf wurden schlimmer … er hörte leise, widerstreitende Stimmen:
Glaube schützt dich nicht. Medizin und Airbags … das sind die Dinge, die dein Leben schützen. Gott schützt dich nicht … Intelligenz schützt dich. Erleuchtung. Vertrau auf etwas, das sichtbare Ergebnisse vorzuweisen hat. Wie lange ist es her, dass jemand über Wasser gelaufen ist? Die modernen Wunder sind Wunder der Wissenschaft … Computer, Impfstoffe, Raumstationen … selbst das »göttliche« Wunder der Schöpfung, Materie aus Nichts … in einem Laboratorium. Wer braucht Gott? Nein, die Wissenschaft ist unser Gott!
Die Stimme des Mörders hallte in Langdons Verstand: Mitternacht … eine mathematische Progression des Todes … sacrifici vergini nell’ altare di scienza.
Dann plötzlich, wie eine Menge, die beim ersten Pistolenschuss verstummt, waren die Stimmen verschwunden. Robert Langdon sprang auf wie von einer Tarantel gestochen. Sein Stuhl kippte nach hinten um und fiel krachend auf den Marmorboden.
Vittoria und der Camerlengo zuckten zusammen.
»Ich habe es die ganze Zeit übersehen!«, flüsterte Langdon wie gebannt. »Und dabei hat es mir ins Gesicht gelacht …«
»Was übersehen?«, fragte Vittoria.
Langdon wandte sich an den Geistlichen. »Vater, seit drei Jahren habe ich dieses Büro immer wieder um Zugang zu den Vatikanischen Archiven gebeten. Ich habe sieben ablehnende Bescheide erhalten.«
»Es tut mir Leid, Mr. Langdon, doch es scheint mir kaum der geeignete Augenblick, um derartige Beschwerden vorzubringen.«
»Ich benötige augenblicklich Zugang! Die verschwundenen Kardinäle – möglicherweise kann ich herausfinden, wo sie ermordet werden sollen.«
Vittoria starrte ihn an, als wäre sie sicher, sich verhört zu haben.
Der Camerlengo blickte traurig drein, als wäre er die Zielscheibe eines schlechten Witzes. »Sie erwarten allen Ernstes von mir, dass ich glaube, die Information befände sich in unseren Archiven?«
»Ich kann nicht versprechen, dass ich sie rechtzeitig finde, aber wenn Sie mir Zugang gewähren …«
»Mr. Langdon, ich muss in vier Minuten in die Sixtinische Kapelle. Die Archive sind über ganz Vatikanstadt verteilt …«
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«, unterbrach Vittoria. Sie starrte Langdon an und erkannte überrascht, wie ernst es ihm tatsächlich war.
»Jetzt ist kaum die Zeit für Witze«, entgegnete Langdon.
»Vater«, sagte Vittoria und wandte sich zum Camerlengo um, »falls es eine Chance gibt … irgendeine Chance herauszufinden, wo diese Morde verübt werden sollen, könnten wir …«
»Aber die Archive!«, beharrte der Camerlengo. »Wie könnten die Archive die benötigten Informationen enthalten?«
»Das zu erklären würde mehr Zeit in Anspruch nehmen, als Sie haben, Monsignore. Doch wenn ich Recht behalte, könnten wir die Informationen nutzen, um den Assassinen zu stellen.«
Der Camerlengo sah aus, als hätte er Langdon gerne geglaubt, könne es aber nicht. »In diesen Archiven werden die heiligsten christlichen Texte aufbewahrt. Schätze, die zu sehen nicht einmal ich privilegiert bin.«
»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«
»Der Zutritt ist nur mit einer schriftlichen Genehmigung des Kurators und des Vorstands der Vatikanischen Bibliothek möglich.«
»Oder«, erklärte Langdon, »mit einem päpstlichen Mandat. So steht es zumindest in jedem Ablehnungsschreiben, das ich von Ihrem Kuratorium erhalten habe.«
Der Camerlengo nickte.
»Ich möchte nicht unhöflich erscheinen«, drängte Langdon, »aber wenn ich nicht sehr irre, ist genau dieses Büro hier für die Ausstellung päpstlicher Mandate zuständig. Und soweit ich es beurteilen kann, sind Sie heute Abend derjenige, der die Geschäfte des Vatikans führt. Angesichts der Umstände …«
Der Camerlengo zog eine Taschenuhr aus seiner Soutane und warf einen Blick darauf. »Mr. Langdon, ich bin bereit, heute Nacht mein Leben zu geben, buchstäblich, um die Kirche zu retten.«
Langdon spürte, dass der junge Priester aus tiefster Überzeugung sprach.
»Dieses Dokument …«, fuhr der Camerlengo fort. »Glauben Sie wirklich, dass es in unseren Archiven ruht? Und dass es helfen kann, die vier Kirchen zu finden, in denen die Kardinäle ermordet werden sollen?«
»Ich hätte nicht zahllose Eingaben um Zutritt an den Vatikan gerichtet, wäre ich nicht davon überzeugt. Italien liegt ein wenig weit vom Schuss, um ins Blaue zu raten, wenn man das Gehalt eines Lehrers bezieht. Das Dokument in Ihren Archiven ist ein altes …«
»Bitte entschuldigen Sie«, unterbrach ihn der Camerlengo. »Mein Verstand kann momentan nicht noch mehr Einzelheiten aufnehmen. Wissen Sie, wo sich die Geheimarchive befinden?«
Langdon spürte, wie Aufregung von ihm Besitz ergriff. »Direkt hinter dem Tor von Sankt Anna.«
»Beeindruckend. Die meisten Gelehrten glauben, dass die Geheimtür hinter dem Apostolischen Stuhl in die Archive führt.«
»Nein. Dort geht es nur zum Archivio della Reverenda Fabbrica di San Pietro. Ein weit verbreiteter Irrtum.«
»Für gewöhnlich begleitet ein Bibliothekar jeden Besucher des Archivs, ohne Ausnahme. Allerdings ist heute Abend niemand da, der Sie begleiten könnte. Was Sie verlangen,
Mr. Langdon, ist ein Freibrief auf unbeschränkten Zugriff. Nicht einmal die Kardinäle besitzen dieses Recht.«
»Ich werde Ihre Schätze mit dem größten Respekt und der größtmöglichen Sorgfalt behandeln. Ihre Bibliothekare werden nicht eine Spur meiner Anwesenheit finden.«
Die Glocken des Petersdoms begannen zu läuten. Der Camerlengo warf einen letzten Blick auf seine Taschenuhr. »Ich muss gehen.« Er zögerte einen angespannten Augenblick, dann blickte er zu Langdon auf. »Also gut. Ich werde einen Hellebardier der Schweizergarde beauftragen, Sie zum Archiv zu begleiten. Ich schenke Ihnen mein Vertrauen, Mr. Langdon. Gehen Sie mit Gott.«
Langdon war sprachlos.
Der junge Geistliche schien von einem unheimlichen Selbstbewusstsein erfüllt. Er streckte die Hand aus und drückte Langdons Schulter mit überraschender Kraft. »Ich möchte, dass Sie finden, wonach Sie suchen. Und finden Sie es schnell.«
46.
Langdon stapfte entschlossen über die verlassene Via della Fondamenta in Richtung der Geheimarchive auf der anderen Seite des Borgiahofs, in denen mehr als zwanzigtausend alte Bücher lagerten und den Gerüchten zufolge unbezahlbare Schätze wie die verlorenen Tagebücher Leonardo da Vincis und sogar unveröffentlichte Teile der Bibel enthielten. Sein Verstand hatte noch nicht verdaut, dass der Camerlengo ihm tatsächlich Zutritt gewährte.
Vittoria ging neben ihm. Sie hielt sein Tempo mühelos mit. Ihr Haar flatterte im Wind und roch nach Mandeln. Langdon spürte, wie seine Gedanken abzuschweifen drohten, und beschleunigte seine Schritte.
»Wollen Sie mir nicht verraten, wonach wir suchen?«, fragte Vittoria.
»Nach einem kleinen Buch, das ein gewisser Galileo geschrieben hat.«
»Sie geben sich nicht mit Kleinigkeiten zufrieden, wie? Was steht drin?«
»Angeblich etwas, das man il segno nennt.«
»Das Zeichen?«
»Zeichen, Hinweis, Signal … kommt darauf an, wie man es übersetzt.«
»Hinweis worauf?«
Langdon ging noch schneller. »Auf einen geheimen Ort. Galileos Illuminati mussten sich vor den Häschern des Vatikans schützen, daher schufen sie einen geheimen Treffpunkt hier in Rom. Sie nannten ihn Kirche der Illumination.«
»Ziemlich vollmundig, einen satanistischen Unterschlupf Kirche zu nennen.«
Langdon schüttelte den Kopf. »Galileos Illuminati waren mitnichten satanistisch. Sie waren Wissenschaftler, die nach Erleuchtung strebten. Dieser Treffpunkt war nicht mehr, als der Name sagt – ein Ort, an dem sie sich ungefährdet treffen und über Themen diskutieren konnten, die der Vatikan für tabu erklärt hatte. Wir wissen zwar, dass der geheime Treffpunkt existiert hat, doch bis zum heutigen Tag hat ihn niemand gefunden.«
»Also wussten die Illuminati, wie man ein Geheimnis bewahrt.«
»Absolut. Tatsächlich hat niemals jemand außerhalb ihrer Bruderschaft erfahren, wo dieser Treffpunkt liegt. Die Geheimhaltung war ihr größter Schutz und zugleich ein ziemliches Problem, wenn es darum ging, neue Mitglieder anzuwerben.«
»Die Illuminati konnten nicht wachsen, wenn niemand zu ihnen fand.«
»Richtig. Die Neuigkeiten von Galileos geheimer Bruderschaft begannen sich um 1630 herum zu verbreiten, und Wissenschaftler aus der ganzen Welt brachen zu Wallfahrten nach Rom auf – in der heimlichen Hoffnung, die Illuminati zu finden und ihnen beizutreten … Jeder war begierig darauf, einen Blick durch Galileos Teleskop zu werfen und einen Vortrag des Meisters zu hören. Unglücklicherweise jedoch wussten die Wissenschaftler nicht, wohin sie gehen sollten, nachdem sie erst einmal in Rom waren. Sie kannten den Treffpunkt nicht und konnten niemanden gefahrlos danach fragen. Die Illuminati wollten neue Mitglieder, doch sie durften die Geheimhaltung nicht gefährden, indem sie ihren Aufenthaltsort verrieten.«
Vittoria runzelte die Stirn. »Klingt nach einer situazione senza soluzione.«
»Genau. Eine Zwickmühle.«
»Und was haben sie getan?«
»Sie waren Wissenschaftler. Sie analysierten das Problem und fanden eine Lösung. Eine brillante Lösung. Die Illuminati schufen eine Art Karte, die Wissenschaftlern den Weg zu ihrem Treffpunkt verriet.«
Vittoria blickte Langdon skeptisch an und verlangsamte ihre Schritte. »Eine Karte? Das klingt aber ziemlich unvorsichtig. Wenn sie in die falschen Hände gefallen wäre …«
»Konnte sie nicht«, sagte Langdon. »Es gab keine Kopien davon. Es war nicht die Art von Karte, die man auf Papier zeichnet. Diese Karte war gigantisch. Eine leuchtende Spur hoch oben am Himmel, direkt über der Stadt.«
Vittoria wurde noch langsamer. »Was denn, vielleicht Markierungen auf dem Bürgersteig oder an Häusern?«
»In gewisser Hinsicht – ja. Aber sehr viel subtiler. Die Karte bestand aus einer Reihe sorgfältig getarnter symbolischer Markierungen, die überall in der Stadt auf öffentlichen Plätzen standen. Ein Hinweis führte zum nächsten … und wieder zum nächsten … Es war eine Spur, an deren Ende der Treffpunkt der Illuminati lag.«
Vittoria beäugte ihn misstrauisch. »Klingt nach einer Schnitzeljagd, wenn Sie mich fragen.«
Langdon kicherte. »In gewisser Hinsicht war es das auch. Die Illuminati nannten ihre Fährte den ›Weg der Erleuchtung‹. Jeder, der zur Bruderschaft wollte, musste diesem Weg bis zum Ende folgen. Es war zugleich eine Art Probe.«
»Aber wenn der Vatikan nach den Illuminati gesucht hat«, warf Vittoria ein, »warum ist er dann nicht einfach dieser Fährte gefolgt?«
»Weil es eine verborgene Fährte war. Ein Puzzle, auf eine Weise konstruiert, dass nur wenige Leute in der Lage waren, die Markierungen aufzuspüren und herauszufinden, wo sich die Kirche der Illumination verbarg. Die Illuminati hatten es so geplant. Die Fährte war nicht nur eine Sicherheitsmaßnahme gegen den Vatikan, sondern auch ein Auswahlprozess, eine Art Initiierung, die sicherstellen sollte, dass nur die klügsten Köpfe vor ihrer Tür eintrafen.«
»Ich verstehe das nicht. Der Klerus des siebzehnten Jahrhunderts war die geistige Elite der damaligen Welt.