Illuminati - Dan Brown - Kapitel 29
vor die Politik. Der junge Camerlengo war ein wahrer Mann Gottes.
Die bedingungslose Hingabe des Camerlengos war in der Vatikanstadt legendär. Viele schrieben es dem wunderbaren Ereignis in seiner Kindheit zu … einem Ereignis, das im Herzen eines jeden Menschen bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. Ein wirkliches Wunder, dachte Mortati und wünschte sich häufig, seine eigene Kindheit hätte ihm ein ähnliches Erlebnis beschert, dazu angetan, unerschütterlichen Glauben zu erwecken.
Unglücklicherweise und zum großen Pech der Kirche würde der junge Camerlengo, wie Mortati wusste, auch in späteren Jahren niemals Papst werden. Das Papsttum verlangte ein gewisses Maß an politischer Leidenschaft, etwas, das dem jungen Camerlengo offensichtlich vollkommen fehlte. Er hatte die Angebote »seines« Papstes, ihn in höhere Ämter zu befördern, viele Male abgelehnt – mit der Begründung, dass er es vorzöge, der Kirche als einfacher Mann zu dienen.
»Was nun?« Der Kardinal tippte Mortati erneut ungeduldig auf die Schulter.
Mortati sah auf. »Verzeihung?«
»Sie sind zu spät! Was machen wir nun?«
»Was können wir machen?«, entgegnete Mortati. »Wir warten. Haben Sie Vertrauen.«
Allem Anschein nach höchst unzufrieden über Mortatis Antwort zog sich der Kardinal zurück.
Mortati blieb noch einen Augenblick stehen, legte die Fingerspitzen an die Schläfen und versuchte zu klarem Verstand zu kommen. In der Tat, was können wir tun?, fragte er sich. Er schaute am Altar vorbei hinauf zu Michelangelos berühmtem Fresko »Das Jüngste Gericht«. Das Gemälde trug nicht dazu bei, seine Besorgnis zu mildern. Es war ein grässliches, fünfzehn Meter hohes Bild von Jesus, der die Menschen in Gut und Böse teilte und die Sünder in die Hölle verbannte, wo es geschundenes Fleisch und brennende Leiber gab. Michelangelo hatte sogar einen seiner Rivalen in der Hölle abgebildet. Guy de Maupassant hatte einst geschrieben, das Fresko sähe aus wie eine Karikatur, die ein unbegabter Kohlenträger gemalt hätte.
Kardinal Mortati stimmte Maupassant insgeheim zu.
43.
Langdon stand am kugelsicheren Fenster des Amtszimmers und schaute hinunter auf das Gewimmel der Übertragungsfahrzeuge, die sich in einer Ecke des Petersplatzes drängten. Der unheimliche Anruf hatte ihn aus der Fassung gebracht. Er fühlte sich nicht wie er selbst.
Die Illuminati waren wie eine Schlange aus den vergessenen Tiefen der Geschichte wieder aufgetaucht und hielten nun ihren alten Feind in einer tödlichen Umklammerung. Keinerlei Forderungen. Keine Verhandlungen. Nur Vergeltung. Dämonisch einfach. Erdrückend. Ein Rachefeldzug, der vierhundert Jahre lang vorbereitet worden war. Es schien, als hätte die Wissenschaft nach Jahrhunderten der Verfolgung zurückgeschlagen.
Der Camerlengo stand an seinem Schreibtisch und starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf das Telefon. Olivetti brach als Erster das Schweigen. »Carlo«, sagte er und sprach den Camerlengo mit seinem Vornamen an; er klang mehr nach einem erschöpften Freund als nach dem leitenden Offizier der Schweizergarde. »Sechsundzwanzig Jahre beschütze ich nun dieses Amt. Heute Nacht, so scheint es, habe ich meine Ehre verloren.«
Der Camerlengo schüttelte den Kopf. »Sie und ich dienen Gott auf verschiedene Weise, doch der Dienst an Gott bringt stets nur Ehre.«
»Diese Ereignisse … ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie … diese ganz Situation …« Olivetti brach überwältigt ab.
»Ihnen ist bewusst, dass uns nur eine Möglichkeit bleibt? Ich bin verantwortlich für die Sicherheit des Kardinalskollegiums.«
»Ich fürchte, das war einmal meine Aufgabe.«
»Ihre Männer werden umgehend die Evakuierung beaufsichtigen.«
»Monsignore?«
»Alles andere kommt erst später – die Suche nach diesem Behälter, die Suche nach den entführten Kardinälen und den Tätern. Zuerst muss das Kollegium in Sicherheit gebracht werden. Das Leben dieser Männer zu schützen ist wichtiger als alles andere. Sie sind das Fundament, auf dem unsere Kirche ruht.«
»Heißt das, Sie brechen das Konklave ab?«
»Bleibt mir eine andere Wahl?« Der junge Camerlengo seufzte und ging zum Fenster. Seine Blicke schweiften über das Gewirr römischer Dächer. »Seine Heiligkeit hat einmal zu mir gesagt, dass ein Papst ein Mann sei, der zwischen zwei Welten stehe – der wirklichen und der göttlichen Welt. Er wusste, dass eine Kirche, welche die Wirklichkeit ignoriert, nicht lange genug bestehen würde, um den Himmel zu erleben.« Seine Stimme klang weise trotz seiner Jugend. »Heute Nacht hat uns die Wirklichkeit in den Fängen. Es wäre dumm und eitel, dies zu ignorieren. Der Stolz darf nicht die Vernunft überschatten.«
Olivetti nickte beeindruckt. »Ich habe Sie unterschätzt, Monsignore.«
Der Camerlengo schien es nicht zu hören. Er stand am Fenster und blickte in die Ferne.
»Ich möchte offen reden, Monsignore. Die Wirklichkeit ist meine Welt. Ich tauche Tag für Tag in ihre Abgründe ein, damit andere ungehindert nach etwas Größerem, Reinerem suchen können. Hören Sie auf meinen Rat in dieser Situation. Ich bin dafür ausgebildet. Ihre Instinkte, so nobel sie auch sein mögen … könnten zu einer Katastrophe führen.«
Der Camerlengo wandte sich um.
Olivetti seufzte. »Die Evakuierung des Kardinalskollegiums aus der Sixtinischen Kapelle … etwas Schlimmeres könnten Sie in dieser Situation gar nicht tun.«
Der Camerlengo reagierte nicht ungehalten, sondern verwirrt. »Was schlagen Sie vor?«
»Sagen Sie nichts zu den Kardinälen. Versiegeln Sie das Konklave. Damit gewinnen wir Zeit, über andere Möglichkeiten nachzudenken.«
Der Camerlengo schien zu zögern. »Wollen Sie andeuten, dass ich das gesamte Kollegium der Kardinäle auf einer Zeitbombe einsperren soll?«
»Ja, Monsignore. Für den Augenblick. Wenn es nötig werden sollte, können wir die Evakuierung zu einem späteren Zeitpunkt immer noch angehen.«
Der Camerlengo schüttelte den Kopf. »Die Zeremonie zu verschieben, bevor sie angefangen hat, ist allein schon Anlass genug für eine Untersuchung. Doch wenn die Türen erst geschlossen sind, darf nichts mehr das Konklave stören. Die Universi Dominici Gregis schreiben vor …«
»Die reale Welt, Monsignore. Heute Nacht sind wir in der realen Welt. Hören Sie zu …« Olivetti redete nun im effizienten Tonfall des Feldoffiziers. »Es wäre unverantwortlich, mit hundertfünfundsechzig unvorbereiteten, schutzlosen Kardinälen nach Rom zu marschieren. Es würde für Verwirrung und Panik sorgen, und einige der Kardinäle sind sehr alte Männer. Offen gestanden, ein tödlicher Schlaganfall in diesem Monat ist genug.«
Ein tödlicher Schlaganfall. Die Worte des Kommandanten riefen Langdons Erinnerung an die Schlagzeile wach, die er beim Mittagessen mit ein paar Studenten in der Mensa von Harvard gelesen hatte: papst erleidet schlaganfall und stirbt im schlaf.
»Außerdem …«, sagte Olivetti, »haben wir die Kapelle Meter für Meter nach Wanzen und anderen elektronischen Geräten abgesucht. Sie ist sauber, ein sicherer Hafen, und ich bin zuversichtlich, dass die Antimaterie nicht dort drin versteckt wurde. Es gibt im Augenblick keinen Ort, der sicherer für die Kardinäle wäre. Über eine Notevakuierung können wir immer noch reden, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.«
Langdon war beeindruckt. Olivettis messerscharfe Logik erinnerte ihn an Maximilian Kohler.
»Herr Oberst«, sagte Vittoria mit nervöser Stimme. »Es gibt noch mehr zu bedenken. Bisher hat niemand eine derart große Menge Antimaterie hergestellt. Ich kann nur schätzen, wie stark die Explosion sein wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird auch die Umgebung in Mitleidenschaft gezogen. Falls der Behälter irgendwo unter der Erde oder in einem der zentralen Gebäude versteckt wurde, mögen die Auswirkungen auf die umliegende Stadt vor den Mauern minimal sein, aber falls er sich in der Nähe der Mauern befindet … beispielsweise in diesem Gebäude hier …« Sie blickte vielsagend hinaus zu der Menschenmenge auf dem Petersplatz.
»Ich bin mir meiner Verantwortung gegenüber der Welt dort draußen durchaus bewusst«, entgegnete Olivetti. »Es macht die Situation nicht ernster, als sie ohnehin schon ist. Der Schutz der Vatikanstadt ist seit mehr als zwei Jahrzehnten meine Aufgabe, und ich habe nicht die Absicht, diese Bombe detonieren zu lassen.«
Camerlengo Ventresca blickte auf. »Sie glauben, Sie können diesen Behälter finden?«
»Ich möchte zuerst mit einigen meiner Spezialisten über unsere Optionen sprechen. Es besteht vielleicht eine Möglichkeit, wenn wir die Stromversorgung von Vatikanstadt ausschalten und das Hintergrundrauschen eliminieren, sodass wir das magnetische Feld des Behälters orten können.«
Vittoria blickte den Oberst überrascht an. »Sie wollen die Vatikanstadt vom Stromnetz trennen?«, fragte sie beeindruckt.
»Möglicherweise, ja. Ich weiß nicht, ob es sich verwirklichen lässt, doch es ist eine Option, die ich durchspielen möchte.«
»Die Kardinäle würden sich bestimmt fragen, was passiert ist«, sagte Vittoria.
Olivetti schüttelte den Kopf. »Das Konklave findet bei Kerzenlicht statt. Die Kardinäle merken überhaupt nichts davon. Nachdem die Kapelle verschlossen ist, könnte ich die meisten Gardisten abziehen und eine Suche starten. Hundert Männer können in fünf Stunden eine Menge erreichen.«
»Vier Stunden«, verbesserte ihn Vittoria. »Ich muss den Behälter nach cern zurückbringen. Die Detonation ist unvermeidlich, wenn ich die Batterien nicht nachladen kann.«
»Es gibt keine Möglichkeit, sie hier nachzuladen?«
Vittoria schüttelte den Kopf. »Das Interface ist äußerst komplex. Ich hätte es mitgebracht, hätte ich eine Möglichkeit gesehen.«
»Also gut, dann eben vier Stunden«, sagte Olivetti. »Immer noch jede Menge Zeit. Panik hilft niemandem weiter. Monsignore, noch zehn Minuten. Gehen Sie zur Kapelle und verschließen Sie die Türen. Lassen Sie meinen Leuten ein wenig Zeit, ihre Arbeit zu erledigen. Wenn der kritische Zeitpunkt näher rückt, zerbrechen wir uns den Kopf über kritische Entscheidungen.«
Langdon fragte sich, ab wann der kritische Zeitpunkt für Olivetti nah genug war.
»Aber … das Kollegium wird wegen der vier preferiti nachfragen«, warf der Camerlengo ein. »Besonders wegen Baggia … sie werden wissen wollen, wo die vier Kardinäle stecken.«
»Dann denken Sie sich etwas aus, Monsignore. Erzählen Sie dem Kollegium, Sie hätten den vier Kardinälen etwas zum Tee serviert, das ihnen nicht bekommen ist.«
»Ich soll mich vor den Altar der Sixtinischen Kapelle stellen und das Kardinalskollegium belügen?«, erwiderte der Camerlengo fassungslos.
»Um ihrer eigenen Sicherheit willen, Monsignore. Una bugia veniale. Eine Notlüge. Ihre Aufgabe ist es, den Frieden zu erhalten.« Olivetti wandte sich zur Tür. »Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, ich muss Vorbereitungen treffen.«
»Oberst Olivetti!«, drängte der Camerlengo. »Wir dürfen die verschwundenen Kardinäle nicht einfach aufgeben!«
Olivetti stand bereits in der Tür. »Auf Baggia und die anderen haben wir derzeit keinen Einfluss. Wir müssen sie gehen lassen – um des Ganzen willen. Das Militär nennt so etwas Triage.«
»Sie meinen, wir sollen die Kardinäle aufgeben?«
Olivettis Stimme klang gepresst. »Wenn es irgendeinen