Illuminati - Dan Brown - Kapitel 24
der Vatikanstadt, und sämtliche Kardinäle befinden sich in der Sixtinischen Kapelle.«
»Was ist mit dem Camerlengo?«, erkundigte sich Langdon tonlos.
»Wem?«
»Dem Camerlengo des verstorbenen Papstes.« Langdon wiederholte das Wort selbstsicher in der Hoffnung, dass seine Erinnerung ihn nicht im Stich ließ. Er hatte einmal von einer merkwürdigen Bestimmung im Vatikan gelesen, den Tod eines Papstes betreffend. Falls er sich nicht täuschte, ging die gesamte Autorität während der Sedisvakanz, bis zur Neuwahl eines Nachfolgers, auf den persönlichen Assistenten des verstorbenen Papstes über – den Camerlengo, eine Art Privatsekretär, der auch das Konklave einberief und beaufsichtigte, bis die Kardinäle den neuen Heiligen Vater bestimmt hatten. »Wenn ich mich recht entsinne, ist der Camerlengo im Augenblick derjenige, der die Verantwortung trägt.«
»Il Camerlengo?«, sagte Olivetti fassungslos. »Der Camerlengo ist ein gewöhnlicher Priester! Er ist nur der Kammerdiener des toten Papstes.«
»Aber er ist hier, und Sie haben seinen Anordnungen zu folgen!«
Olivetti verschränkte die Arme. »Professor Langdon, es ist zutreffend, dass die vatikanischen Vorschriften den Camerlengo während des Konklave zum obersten Beamten des Vatikans bestimmen, doch nur deswegen, weil er nicht zum Papst gewählt werden kann und daher eine unbeeinflusste Wahl gewährleistet ist. Es ist genau so, wie wenn Ihr Präsident stirbt und einer seiner Berater vorübergehend die Amtsgeschäfte im Weißen Haus führt. Der Camerlengo ist jung und sein Verständnis für die Sicherheit des Vatikans extrem beschränkt, genau wie für alles andere auch, wenn ich das sagen darf. Ich bin hier der Verantwortliche und niemand sonst.«
»Bringen Sie uns zu ihm!«, verlangte Vittoria.
»Unmöglich. Das Konklave beginnt in vierzig Minuten. Der Camerlengo hält sich im Amtszimmer des Papstes auf und bereitet alles vor. Ich werde ihn nicht mit belanglosen Sicherheitsangelegenheiten stören.«
Vittoria öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch ein Klopfen an der Tür kam ihr zuvor. Olivetti öffnete.
Ein Gardist in voller Montur stand draußen und deutete auf seine Uhr. »È l’ora, Comandante.«
Olivetti blickte auf seine eigene Uhr und nickte. Er wandte sich zu Langdon und Vittoria um wie ein Richter, der über ihr Schicksal entschied. »Folgen Sie mir.« Er führte sie aus dem Überwachungsraum durch das Sicherheitszentrum zu einem kleinen Raum an der Rückseite. »Mein Büro.« Er bat sie einzutreten. Das Zimmer war untypisch – ein übersäter Schreibtisch, Aktenschränke, Klappstühle, ein Trinkwasserspender. »Ich bin in zehn Minuten zurück. Ich schlage vor, Sie verbringen die Zeit damit zu überlegen, wie Sie weiter vorgehen möchten.«
Vittoria wirbelte zu ihm herum. »Sie können nicht einfach weggehen! Dieser Behälter ist …«
»Ich habe keine Zeit dafür!«, schäumte Olivetti. »Vielleicht sollte ich Sie inhaftieren, bis das Konklave vorbei ist. Bis ich mehr Zeit für Sie habe.«
»Signore«, drängte der Gardist und deutete erneut auf seine Uhr. »Spazzare in cappella.«
Olivetti nickte und machte Anstalten zu gehen.
»Spazzare in cappella?«, fragte Vittoria verblüfft. »Sie wollen die Kapelle auskehren?«
Olivetti wandte sich einmal mehr zu ihr um, und seine Blicke durchbohrten sie. »Wir suchen die Kapelle nach elektronischen Geräten ab, Signorina Vetra. Wanzen, wenn Sie verstehen. Eine Frage der Diskretion.« Er deutete auf ihre nackten Beine. »Doch ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen.«
Mit diesen Worten warf er die Tür ins Schloss, dass das schwere Glas klirrte. Mit einer einzigen flüssigen Bewegung nahm er einen Schlüssel aus der Tasche, schob ihn ins Schloss und drehte ihn herum. Ein schwerer Riegel glitt an seinen Platz.
»Idiota!«, fauchte Vittoria. »Sie dürfen uns nicht hier drin festhalten!«
Durch das Glas hindurch sah Langdon, wie Olivetti etwas zu dem Gardisten sagte. Der Wächter nickte. Olivetti stapfte aus dem Raum, und der Gardist wandte sich um und bezog vor der Glastür Posten, die Arme verschränkt, eine mächtige Waffe in einem Halfter an der Hüfte.
Großartig, dachte Langdon. Einfach großartig!
37.
Vittoria funkelte den Wachposten draußen vor Olivettis abgeschlossenem Büro an. Der Wachposten starrte zurück, und sein buntes Kostüm täuschte nicht über den tödlichen Ernst hinweg, mit dem er seiner Aufgabe nachkam.
Che fiasco!, dachte Vittoria. Gefangen von einem bewaffneten Soldaten im Pyjama!
Langdon war verstummt, und Vittoria hoffte, dass er sein Harvard-Gehirn dazu benutzte, über einen Ausweg nachzudenken. An seinem Gesichtsausdruck erkannte sie jedoch, dass er eher schockiert als nachdenklich war, und sie bedauerte, ihn so tief in diese Geschichte verwickelt zu haben.
Ihr erster Gedanke war, das Mobiltelefon zu nehmen und Kohler anzurufen, doch sie wusste, dass es zwecklos war. Erstens würde der Wachposten wahrscheinlich hereinkommen und ihr das Telefon wegnehmen, und zweitens, falls Kohlers Anfall verlief wie üblich, war er wahrscheinlich immer noch nicht ansprechbar. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte … Olivetti sah nicht danach aus, als würde er im Augenblick irgendjemandes Ratschlag in Sicherheitsfragen annehmen.
Erinnere dich!, sagte sie sich. Erinnere dich an die Lösung dieser Aufgabe!
Es war ein Trick aus der buddhistischen Philosophie. Statt ihren Verstand nach einer Lösung für eine möglicherweise unlösbare Herausforderung suchen zu lassen, versuchte Vittoria, sich einfach an die Lösung zu erinnern. Die Voraussetzung, dass man die Antwort einmal gewusst hatte, schuf die Überzeugung, dass eine Antwort tatsächlich existierte … und eliminierte auf diese Weise das Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Vittoria setzte diesen Trick häufig ein, um wissenschaftliche Probleme anzugehen, von denen die meisten Menschen glaubten, dass es keine Lösung für sie gab.
Im Augenblick jedoch wollte der Erinnerungstrick nicht funktionieren. Also dachte sie über ihre Möglichkeiten nach … und ihre Bedürfnisse. Sie hatte das dringende Bedürfnis, jemanden zu warnen. Irgendjemand im Vatikan musste sie doch ernst nehmen! Aber wer? Der Camerlengo? Wie? Sie saß in einem Glaskasten mit nur einem einzigen Ausgang.
Werkzeug, sagte sie sich. Es gibt immer ein geeignetes Werkzeug. Such deine Umgebung ab.
Instinktiv senkte sie die Schultern, schloss entspannt die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag verlangsamte und ihre Muskeln weich wurden. Die chaotische Panik wich aus ihrem Verstand. In Ordnung, dachte sie. Lass deinen Gedanken freien Lauf. Was ist positiv an dieser Situation? Welche Trümpfe halte ich in der Hand?
Der analytische Verstand von Vittoria Vetra, nachdem er sich endlich beruhigt hatte, war ein mächtiges Instrument. Innerhalb von Sekunden erkannte sie, dass ihre Einkerkerung wahrscheinlich zugleich den Ausweg bedeutete.
»Ich werde telefonieren«, sagte sie unvermittelt.
Langdon sah auf. »Ich wollte gerade vorschlagen, dass Sie Kohler anrufen, aber …«
»Nicht Kohler. Jemand anderen.«
»Wen?«
»Den Camerlengo.«
Langdon starrte sie entgeistert an. »Sie wollen den Camerlengo anrufen? Wie das?«
»Olivetti hat gesagt, der Camerlengo wäre im Amtszimmer des Papstes.«
»Schön. Wissen Sie die Nummer?«
»Nein. Aber ich habe nicht vor, mein Telefon zu benutzen.« Sie deutete auf das kompliziert aussehende Telefon auf Olivettis Schreibtisch. Es war übersät mit Schnellwahlknöpfen. »Der Sicherheitschef muss eine direkte Leitung zum Papst haben.«
»Er hat auch einen Gewichtheber mit einer Kanone keine drei Meter weit weg.«
»Wir sind eingesperrt.«
»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«
»Ich meine, der Wachposten ist ausgesperrt. Das hier ist Olivettis Büro. Ich bezweifle, dass irgendjemand anders einen Schlüssel besitzt.«
Langdon schaute zu dem Wachposten jenseits der Tür. »Das Glas ist ziemlich dünn, und diese Pistole ist ziemlich schwer.«
»Was soll er denn machen? Mich erschießen, weil ich versuche zu telefonieren?«
»Wer weiß, verdammt noch mal! Das ist ein merkwürdiger Laden, und wie die Dinge hier laufen …«
»Entweder das«, sagte Vittoria, »oder wir verbringen die nächsten fünf Stunden und achtundvierzig Minuten im Gefängnis des Vatikans. Wenigstens haben wir Sitzplätze in der ersten Reihe, wenn die Antimaterie hochgeht.«
Langdon erbleichte. »Aber der Wachposten wird Olivetti alarmieren, sobald Sie den Hörer anfassen! Außerdem sind zwanzig Knöpfe auf dem Apparat. Ich sehe nirgendwo Schildchen. Wollen Sie etwa jeden einzelnen ausprobieren und hoffen, dass Sie Glück haben?«
»Bestimmt nicht«, entgegnete Vittoria. »Nur einen einzigen.« Sie nahm den Hörer in die Hand und drückte auf den obersten Knopf. »Nummer eins. Ich wette einen von Ihren Illuminati-Dollars, dass es die Nummer des Amtszimmers ist. Was sonst könnte wichtiger sein für den Kommandanten der Schweizergarde?«
Langdon blieb keine Zeit für eine Antwort. Der Wachposten draußen vor der Tür fing an, mit dem Kolben seiner Waffe gegen das Glas zu hämmern. Er bedeutete Vittoria mit wilden Handbewegungen, das Telefon wieder hinzulegen.
Vittoria zwinkerte ihm zu. Der Wachposten schien außer sich vor Zorn.
Langdon ging von der Tür weg und wandte sich Vittoria zu. »Ich hoffe wirklich, dass Sie sich nicht irren. Der Bursche da draußen sieht nicht aus, als würde er sich amüsieren.«
»Verdammt!«, sagte sie und lauschte. »Eine Sprachaufzeichnung!«
»Was?«, rief Langdon. »Der Papst hat einen Anrufbeantworter?«
»Es war nicht das Amtszimmer«, entgegnete Vittoria und legte auf. »Es war der wöchentliche Speiseplan der vatikanischen Kantine.«
Langdon grinste dem Wachposten draußen vor der Tür verlegen zu, der inzwischen sein Walkie-Talkie hervorgezogen hatte und Olivetti rief.
38.
Die Vermittlungsstelle der Vatikanstadt befand sich im Ufficio di Communicazione hinter dem Vatikanischen Postamt. Es war ein relativ kleiner Raum mit einem Corelco-Vermittlungsapparat und acht Leitungen. Das Büro hatte etwas mehr als zweitausend Anrufe täglich zu bewältigen, und die meisten davon wurden an das automatische Auskunftssystem weitergeleitet.
Der einzige Dienst habende Telefonist saß an seinem Schreibtisch und trank heißen Tee. Er war stolz darauf, dass er als einer der wenigen Angestellten in dieser Nacht in der Vatikanstadt bleiben durfte. Selbstverständlich war die Ehre ein wenig eingeschränkt durch die Anwesenheit der Gardisten, die vor seiner Tür aufmarschiert waren. Mit einer Eskorte auf die Toilette, dachte der Telefonist. Ah, welche Demütigungen wir doch im Namen des Heiligen Konklaves über uns ergehen lassen.
Glücklicherweise hatte es an diesem Abend nur wenige Anrufer gegeben. Oder vielleicht ist es auch kein Glück, dachte der Mann. Das Interesse der Weltöffentlichkeit am Vatikan war in den letzten paar Jahren stark zurückgegangen. Die Zahl der Presseanrufe war gesunken, und selbst die Irren meldeten sich nicht mehr so häufig. Das Presseamt hatte eigentlich gehofft, dass der heutige Abend mehr Aufmerksamkeit wecken würde. Doch obwohl sich auf dem Petersplatz die Übertragungswagen der Medien drängten, waren es hauptsächlich italienische und europäische Medien. Nur eine Hand voll globaler Fernsehstationen war gekommen