Illuminati - Dan Brown - Kapitel 22
informiert. Er hatte noch keine Rückmeldung erhalten. Andere Kardinäle hatten inzwischen ebenfalls die rätselhafte Abwesenheit bemerkt. Besorgtes Getuschel hatte eingesetzt. Von allen Kardinälen durften diese vier sich am wenigsten verspäten! Kardinal Mortati fürchtete allmählich, dass dieses Konklave vielleicht doch länger dauern könnte als erwartet.
Er konnte nicht ahnen, wie viel länger.
35.
Der Hubschrauberlandeplatz des Vatikans befand sich aus Gründen des Lärmschutzes und der Sicherheit in der westlichsten Ecke der Vatikanstadt, so weit vom Petersdom entfernt wie möglich.
»Terra ferma«, verkündete der Pilot, als sie landeten. Er sprang hinaus und öffnete die Schiebetür für Langdon und Vittoria.
Langdon stieg aus und wollte Vittoria behilflich sein, doch sie war bereits gesprungen und landete leichtfüßig auf dem Boden. Jeder Muskel in ihrem Körper schien nur noch ein Ziel zu kennen – die Antimaterie zu finden, bevor das Undenkbare eintrat.
Der Pilot spannte eine versilberte Schutzplane über das Kanzelfenster, dann führte er Langdon und Vittoria zu einem überdimensionierten elektrischen Golfkart, das neben dem Landeplatz wartete. Das Kart summte leise an der Westmauer entlang, einem fünfzehn Meter hohen Bollwerk, das dick genug war, um selbst Panzerangriffen standzuhalten. Auf der Innenseite der Mauer, in Abständen von fünfzig Metern, waren Schweizergardisten postiert, die das Innere der Vatikanstadt sicherten. Das Kart bog unvermittelt nach rechts in die Via dell’ Osservatorio ein. Schilder wiesen in alle Richtungen:
palazzo governativo
collegio ethiopiano
basilica san pietro
cappella sistina
Sie folgten der gepflegten Straße an einem flachen Gebäude vorbei, das ein Schild mit der Aufschrift radio vaticano trug. Dies, so erkannte Langdon zu seinem Erstaunen, war die Zentrale des meistgehörten Radioprogramms der Welt, welches das Wort Gottes zu Millionen von Hörern überall auf der Welt brachte.
»Attenzione!«, rief der Pilot und bog in einen Kreisverkehr ein.
Der Wagen folgte der Kurve, und Langdon traute seinen Augen nicht, als er zum ersten Mal die Vatikanischen Gärten erblickte. Das Herz der Vatikanstadt, dachte er. Direkt vor ihm erhob sich die Rückseite des Petersdoms, ein Anblick, den die meisten Menschen niemals zu Gesicht bekamen. Zur Rechten ragte der Palast des Tribunals in die Höhe, die päpstliche Residenz, die in ihrer barocken Pracht nur von Versailles übertroffen wurde. Das schlichte Gebäude des Governatorato, in dem die Verwaltung des Vatikans untergebracht war, lag nun hinter ihnen. Ein Stück voraus und zur Linken erhob sich das massive Bauwerk des Vatikanischen Museums. Langdon wusste, dass diesmal wohl keine Zeit für eine Besichtigungstour blieb.
»Wo sind nur alle?«, fragte Vittoria mit einem Blick auf die menschenleeren Gärten und Gehwege.
Der Gardist warf einen Blick auf seine Armbanduhr – ein seltsamer Anachronismus unter den Puffärmeln seiner altertümlichen Uniform. »Die Kardinäle haben sich in der Sixtinischen Kapelle versammelt. Das Konklave beginnt in etwas weniger als einer Stunde.«
Langdon nickte. Er erinnerte sich undeutlich, dass die Kardinäle traditionsgemäß die beiden letzten Stunden vor dem Konklave in stiller Kontemplation in der Sixtinischen Kapelle verbrachten, oder um ihre Kollegen von überall auf der Welt zu treffen und alte Freundschaften zu erneuern. Dies gewährleistete manchmal eine weniger hitzige Wahl. »Und die restlichen Bewohner? Die Belegschaft?«
»Sie alle sind aus Gründen der Geheimhaltung und Sicherheit bis zum Ende des Konklaves aus der Stadt verbannt.«
»Und wann endet das Konklave?«
Der Gardist zuckte die Schultern. »Das weiß Gott allein.«
Nachdem der Gardist das Kart auf dem Rasen direkt hinter dem Petersdom geparkt hatte, führte er Langdon und Vittoria eine breite Treppe zu einer Piazza auf der Rückseite der Basilika hinauf. Sie überquerten die Piazza und folgten den Mauern bis zur Via Belvedere und einer Reihe eng beieinander stehender kleinerer Gebäude. Langdon beherrschte genug Italienisch, um die Wegweiser zur Vatikanischen Druckerei, zum Restaurationsbetrieb für Wandteppiche, zum Postamt und zur Kirche von St. Anna zu entziffern. Sie überquerten einen weiteren kleinen Platz und waren am Ziel.
Die Kaserne der Schweizergarde war ein flaches, lang gestrecktes Steingebäude. Zu beiden Seiten des Eingangs standen zwei Wachen, steif wie Statuen.
Sie sahen alles andere als komisch aus. Auch sie trugen die blau-goldene Uniform, doch jeder hielt außerdem die berühmte Hellebarde – einen über zwei Meter langen Speer mit einer rasiermesserscharfen Axtklinge und einer Spitze am Ende. Berichten zufolge hatte diese Waffe im fünfzehnten Jahrhundert bei der Verteidigung der christlichen Kreuzfahrer zahllose Muslime enthauptet.
Als Langdon und Vittoria näher kamen, traten die beiden Wachen vor, kreuzten ihre Hellebarden und versperrten den Eingang. Einer blickte den Piloten fragend an. »I pantaloni«, sagte er und deutete auf Vittorias Shorts.
Der Pilot winkte ab. »Il Comandante vuole vederli subito.«
Zögernd gaben die Wachen den Weg frei.
Die Luft im Innern war kühl. Es sah bei weitem nicht so aus, wie Langdon es erwartet hatte. Die Gänge waren mit kunstvoll verziertem Mobiliar und Wandteppichen ausgestattet, die Langdons Meinung nach jedes Museum der Welt mit Freuden in seine Hauptausstellung aufgenommen hätte.
Der Pilot deutete auf eine Treppenflucht, die nach unten führte. »Dort entlang bitte.«
Langdon und Vittoria stiegen weiße Marmorstufen hinunter, die rechts und links von einer Galerie nackter männlicher Skulpturen gesäumt waren. Jede Statue trug ein großes Feigenblatt, dessen Farbe ein klein wenig heller war als der Rest der Skulptur.
Die Große Kastration, dachte Langdon.
Es war eine der entsetzlichsten Tragödien für die Kunst der Renaissance. Im Jahre 1857 hatte der amtierende Papst Pius IX. entschieden, dass die genaue Wiedergabe männlicher Formen Lust in den Mauern des Vatikans provozieren könnte. Also hatte er einen Hammer und einen Meißel genommen und persönlich die Geschlechtsteile jeder einzelnen männlichen Statue in der ganzen Vatikanstadt abgeschlagen. Er hatte Arbeiten von Michelangelo, Bramante und Bernini zerstört. Hunderte von Skulpturen waren entmannt worden. Die Feigenblätter aus Gips sollten die Beschädigungen maskieren. Langdon hatte sich häufig gefragt, ob nicht irgendwo auf dem Gelände eine große Kiste mit Steinpenissen lagerte.
»Hier«, verkündete der Gardist.
Sie hatten den Fuß der Treppe erreicht und waren vor einer massiven Stahltür angelangt. Der Gardist tippte einen Kode in ein Tastenfeld, und die Tür glitt auf. Langdon und Vittoria traten ein.
Hinter der Schwelle herrschte das Chaos.
36.
Die Diensträume der Schweizergarde.
Langdon stand im Eingang und betrachtete staunend den Aufeinanderprall der Jahrhunderte. Mixed Media. Der Raum war eine prachtvoll ausgestattete Renaissancebibliothek, komplett mit verzierten Bücherregalen, orientalischen Teppichen und farbenfrohen Wandbehängen … und doch starrte alles vor modernster Technologie. Computer, Faxgeräte, elektronische Karten des gesamten Komplexes, Fernsehgeräte, die auf cnn eingestellt waren. Männer in bunten Uniformen arbeiteten fieberhaft an Bildschirmen oder lauschten angestrengt auf das, was aus futuristischen Kopfhörern drang.
»Warten Sie hier!«, befahl der Gardist.
Langdon und Vittoria gehorchten, während der Mann den Raum durchquerte und einem ungewöhnlich großen, drahtigen Offizier in dunkler militärischer Uniform Bericht erstattete. Der Offizier sprach in ein mobiles Telefon und stand so steif, dass es aussah, als müsste er jeden Augenblick nach hinten kippen. Der Gardist sagte etwas zu ihm, und der Mann warf einen Blick zu Langdon und Vittoria herüber. Er nickte; dann wandte er den beiden wieder den Rücken zu und telefonierte weiter.
Der Gardist kehrte zurück. »Oberst Olivetti wird sich gleich um Sie beide kümmern.«
»Danke sehr.«
Der Gardist machte kehrt und verließ den Raum.
Langdon betrachtete Oberst Olivetti, während ihm allmählich bewusst wurde, dass der Mann genau genommen der Befehlshaber der bewaffneten Streitkräfte eines ganzen Landes war. Langdon und Vittoria beobachteten das hektische Treiben ringsum. Bunt gekleidete Gardisten wimmelten durcheinander und brüllten sich auf Italienisch Befehle und Meldungen zu.
»Continua a cercare!«, rief einer in ein Telefon.
»Hai provato il museo?«, fragte ein anderer.
Obwohl Langdons Italienisch-Kenntnisse gering waren, verstand er sofort, dass die Gardisten hektisch suchten. Das war ein gutes Zeichen. Die schlechte Nachricht war, dass sie die Antimaterie offensichtlich noch nicht gefunden hatten.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er Vittoria.
Sie zuckte die Schultern und lächelte müde.
Als der Kommandant der Schweizergarde schließlich das Gespräch beendete und sich durch den Raum hindurch näherte, schien er mit jedem Schritt zu wachsen. Langdon war selbst groß gewachsen und musste nur selten zu anderen Menschen aufblicken, doch Kommandant Olivetti ließ ihm keine andere Wahl. Langdon spürte augenblicklich, dass der Oberst ein erfahrener Mann war. Sein Gesicht war hager und hart. Er trug das dunkle Haar militärisch kurz. Seine Augen strahlten jene Art eiserner Entschlossenheit aus, die man nur durch Jahre intensiven Trainings erwerben konnte. Er bewegte sich so steif, als hätte er einen Besenstiel verschluckt, und der Hörer, den er diskret hinter dem Ohr trug, verlieh ihm mehr Ähnlichkeit mit einem Agenten des Secret Service als einem Schweizergardisten.
Er begrüßte sie in nicht ganz akzentfreiem Englisch. Seine Stimme war für einen so großen Mann verblüffend leise, kaum mehr als ein Flüstern. Die militärische Strenge und Effizienz war dennoch nicht zu überhören. »Guten Tag«, sagte er. »Ich bin Oberst Olivetti – Comandante Principale der Schweizergarde. Ich habe Ihren Direktor angerufen.«
Vittoria begegnete seinem Blick. »Danke sehr, dass Sie uns gerufen haben, Sir.«
Der Kommandant antwortete nicht. Er bedeutete ihnen mit einem Wink, ihm zu folgen, und führte sie durch das Gewirr aus Elektronik zu einer Tür. »Bitte treten Sie ein«, sagte er und hielt die Tür auf.
Langdon und Vittoria betraten den Raum und fanden sich in einem verdunkelten Zimmer mit einer Wand aus Monitoren wieder, die abwechselnd verschiedene Schwarzweißbilder des gesamten Komplexes zeigten. Ein junger Gardist saß vor dem Kontrollpult und beobachtete die Monitore.
»Fuori!«, sagte Olivetti.
Der Gardist erhob sich und ging.
Olivetti trat zu einem der Schirme und deutete darauf. Dann wandte er sich seinen Besuchern zu. »Dieses Bild wird von einer drahtlosen Kamera übertragen, die irgendwo in der Vatikanstadt versteckt wurde. Ich hätte gerne eine Erklärung.«
Langdon und Vittoria sahen auf den Schirm und atmeten tief ein. Das Bild war eindeutig. Kein Zweifel. Es war der Antimateriebehälter von cern. Im Innern schwebte auf geheimnisvolle Weise ein winziger Tropfen einer metallischen Flüssigkeit, beleuchtet vom rhythmischen Blinken einer digitalen LED-Uhr. Die Umgebung rings um den Behälter war völlig dunkel, als befände er sich in einem Schrank oder einem lichtlosen Raum. Am Rand