Illuminati - Dan Brown - Kapitel 12
davon zu bemerken.
Die Stahltür glitt auf, und sie trat ein.
Kohler fixierte Langdon mit eisernem Blick. Seine Botschaft war deutlich. Wie ich Ihnen bereits sagte – dieses fehlende Auge diente einem sehr viel höheren Zweck.
18.
Die Hände der Frau waren gefesselt, ihre Handgelenke rot und geschwollen von der Reibung. Der dunkelhäutige Hashishin lag erschöpft neben ihr und bewunderte seine nackte Beute. Er fragte sich, ob ihr Schlaf nur vorgetäuscht war, ein erbärmlicher Versuch, weiteren Forderungen von seiner Seite zu entgehen.
Es war ihm egal. Er hatte genug. Gesättigt richtete er sich auf.
In seiner Heimat waren Frauen Besitz. Schwach. Werkzeuge zum Vergnügen, Leibeigene, die gehandelt wurden wie Vieh. Und sie wussten, wo ihr Platz war. Hier in Europa täuschten die Frauen eine Stärke und Unabhängigkeit vor, die ihn zugleich erheiterte und erregte. Sie physisch zu unterjochen war ein Vergnügen, das er stets aufs Neue genoss.
Trotz der Zufriedenheit in den Lenden spürte der Hashishin, wie neuer Appetit in ihm wuchs. Er hatte in der vergangenen Nacht getötet, getötet und verstümmelt, und das Töten war für ihn wie Heroin … jede Befriedigung war immer nur von kurzer Dauer, und jedes Mal war die Gier umso größer. Das Hochgefühl hatte sich verflüchtigt. Das Verlangen kehrte zurück.
Er betrachtete die schlafende Frau neben sich. Er fuhr mit der Hand über ihren Hals und spürte die Erregung des Gefühls, sie in einem einzigen Augenblick töten zu können. Was spielte es für eine Rolle? Sie war ein Niemand, ein Ding, das zum Dienen und zum Vergnügen da war, weiter nichts. Seine starken Finger umfassten ihre Kehle, und er spürte ihren schwachen Puls. Doch er kämpfte gegen das Verlangen an und zog die Hand zurück. Arbeit wartete auf ihn. Arbeit für eine höhere Sache als sein persönliches Vergnügen.
Während er aus dem Bett stieg, wurde ihm einmal mehr bewusst, welch große Ehre der vor ihm liegende Auftrag bedeutete. Er hatte noch immer keine Vorstellung vom Einfluss dieses Mannes namens Janus und der alten Bruderschaft, die er befehligte. Wunderbarerweise hatten sie ihn auserwählt. Irgendwie mussten sie von seinem Abscheu erfahren haben … und von seiner Geschicklichkeit. Wie, würde er nie herausfinden. Ihre Wurzeln reichen weit …
Und nun hatten sie ihm die höchste aller Ehren zuteil werden lassen. Er würde ihre Hand und ihre Stimme sein. Ihr Assassine und ihr Bote. Er würde derjenige sein, den sein Volk Malak alhaq nannte – der Engel der Wahrheit.
19.
Vetras Labor war – mit einem Wort beschrieben – futuristisch.
Weiße Wände, weißer Boden, weiße Decke, Computer, wohin das Auge sah, sowie spezielle elektronische Apparaturen; es erinnerte an einen hochmodernen Operationssaal. Langdon fragte sich, welche Geheimnisse es in diesem Labor geben mochte, die es rechtfertigten, einem Menschen ein Auge herauszuschneiden, um sich Zutritt zu verschaffen.
Kohler wirkte nervös, als sie eintraten. Seine Blicke wanderten hierhin und dorthin und suchten nach Anzeichen eines Eindringlings. Doch das Labor war leer. Vittoria bewegte sich ebenfalls langsam … als wäre das Labor ein völlig unbekannter Raum, wenn ihr Vater sich nicht hier aufhielt.
Langdons Blick blieb in der Mitte des Labors hängen, wo eine Reihe kleiner Säulen stand. Es sah aus wie ein Miniatur-Stonehenge; ein Dutzend der vielleicht einen Meter hohen Gebilde aus poliertem Edelstahl war in einem Kreis angeordnet. Auf jeder Säule stand ein transparenter Behälter von der Größe einer Tennisballdose. Die Behälter schienen leer zu sein.
Kohler betrachtete die Behälter verwirrt; dann beschloss er offenbar, sie für den Augenblick zu ignorieren. Er wandte sich zu Vittoria um. »Wurde irgendetwas gestohlen?«, fragte er.
»Gestohlen? Wie denn?«, entgegnete sie. »Der Retina-Scanner lässt niemanden hinein außer uns!«
»Sehen Sie sich einfach nur um.«
Vittoria seufzte und untersuchte den Raum einige Minuten lang. Dann zuckte sie die Schultern. »Alles sieht so aus wie immer. Geordnetes Chaos.«
Langdon spürte, wie Kohler zögerte. Wahrscheinlich fragte er sich, wie weit er gehen konnte … wie viel er Vittoria sagen durfte. Offensichtlich entschied er sich, es für den Augenblick zu lassen. Er lenkte seinen Rollstuhl zur Mitte des Labors und betrachtete die mysteriöse Anordnung scheinbar leerer Behälter auf den Säulen.
»Geheimnisse sind ein Luxus«, sagte er schließlich, »den wir uns nicht mehr länger leisten können.«
Vittoria nickte ergeben. Sie wirkte mit einem Mal mitgenommen, als wäre hier im Labor eine Flut von Erinnerungen auf sie eingestürzt.
Lass ihr einen Augenblick Zeit, dachte Langdon.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch, als müsste sie sich innerlich auf das vorbereiten, was zu enthüllen sie im Begriff stand. Atmete erneut. Und noch einmal. Und noch einmal …
Langdon beobachtete sie, und in ihm regte sich Besorgnis. Ist alles in Ordnung mit ihr? Er warf einen Blick zu Kohler, der ungerührt schien – offenbar hatte er dieses Ritual schon häufiger beobachtet. Zehn Sekunden vergingen, bevor Vittoria die Augen wieder aufschlug.
Die Verwandlung war unglaublich. Vittoria Vetra war ein anderer Mensch. Ihre vollen Lippen schlaff, die Schultern hängend, die Augen weich und nachgiebig. Es war, als hätte sie jeden Muskel in ihrem Körper dazu gebracht, die Situation hinzunehmen. Das Feuer und der persönliche Schmerz waren irgendwie unter einer Oberfläche aus Gelassenheit verschwunden.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte sie mit nüchterner Stimme.
»Am besten ganz am Anfang«, entgegnete Kohler. »Berichten Sie uns von den Experimenten Ihres Vaters.«
»Sein Lebenstraum war, Religion und Wissenschaft zu vereinen«, sagte sie. »Er hoffte beweisen zu können, dass Religion und Wissenschaft zwei durchaus miteinander vereinbare Dinge seien – zwei verschiedene Wege zu ein und derselben Wahrheit.« Sie zögerte, als glaubte sie selbst nicht an das, was als Nächstes kam. »Und vor kurzem … fand er einen Weg dorthin.«
Kohler schwieg.
»Er entwickelte ein Experiment, von dem er hoffte, dass es einen der erbittertsten Konflikte in der Geschichte von Wissenschaft und Religion beenden könnte.«
Langdon fragte sich, welchen Konflikt sie meinte. Es gab zu viele.
»Die Schöpfung«, erklärte Vittoria. »Der Streit darüber, wie das Universum entstanden ist.«
Oh, dachte Langdon. Dieser Streit.
»Die Bibel behauptet selbstverständlich, dass Gott das Universum erschaffen hat«, fuhr sie fort. »Gott sprach: ›Es werde Licht‹, und alles um uns herum entstand aus der unendlichen Leere. Unglücklicherweise besagt eines der grundlegenden Gesetze der Physik, dass Materie nicht aus Nichts erschaffen werden kann.«
Langdon hatte von dieser Pattsituation gelesen. Die Vorstellung, dass Gott angeblich »Irgendetwas« aus einem absoluten »Nichts« erschaffen habe, stand in totalem Widerspruch zu sämtlichen anerkannten Gesetzen der modernen Physik; deswegen, so der Standpunkt der Wissenschaftler, war die Genesis wissenschaftlich gesehen absurd.
»Mr. Langdon«, sagte Vittoria und wandte sich zu Robert um. »Ich nehme an, Sie sind mit der Urknalltheorie vertraut?«
Langdon zuckte die Schultern. »Mehr oder weniger.« Der Urknall, so viel wusste er, war das wissenschaftlich akzeptierte Modell für die Entstehung des Universums. Er verstand die Zusammenhänge nicht wirklich, doch nach der Theorie hatte es einen unendlich dichten Punkt konzentrierter Energie gegeben, der in einer kataklysmischen Explosion auseinander geflogen war und dies auch heute noch tat. So war das Universum entstanden. Oder so ähnlich.
Vittoria fuhr fort: »Als die katholische Kirche im Jahr 1927 zum ersten Mal die Urknalltheorie vorlegte, waren die …«
»Verzeihung«, unterbrach Langdon sie. »Sie sagen, die Urknalltheorie war eine katholische Idee?«
Vittoria wirkte überrascht. »Selbstverständlich. Ein katholischer Mönch hat sie entwickelt, Georges Lemaître, 1927.«
»Aber ich … ich dachte …« Langdon zögerte. »Stammt die Urknall-Theorie nicht von dem Harvard-Astronomen Edwin Hubble?«
Kohler funkelte ihn an. »Wieder einmal die typische Arroganz der amerikanischen Wissenschaft! Hubble veröffentlichte seine Arbeit 1929, zwei Jahre nach Lemaître!«
Langdon runzelte die Stirn. Aber es heißt Hubble-Teleskop, Sir. Ich habe nie etwas von einem Lemaître-Teleskop gehört!
»Mr. Kohler hat Recht«, sagte Vittoria. »Die Idee kam von Lemaître. Hubble bestätigte seine Theorie lediglich, indem er den Nachweis erbrachte, dass der Urknall wissenschaftlich möglich ist.«
»Oh«, sagte Langdon und fragte sich im gleichen Augenblick, ob die Hubble-Fanatiker in der Astronomischen Fakultät von Harvard in ihren Vorlesungen jemals Lemaître erwähnten.
»Jedenfalls, als Lemaître zum ersten Mal den Urknall ins Spiel brachte«, fuhr Vittoria fort, »hielten Wissenschaftler seine Theorie für absoluten Schwachsinn. Materie, so sagt die Wissenschaft, kann nicht aus dem Nichts erschaffen werden. Und als Hubble die Welt mit dem wissenschaftlichen Beweis schockierte, dass der Urknall tatsächlich stattgefunden haben könnte, wertete die Kirche dies als Sieg und darüber hinaus als Beweis für die wissenschaftliche Korrektheit der Bibel. Die göttliche Wahrheit.«
Langdon nickte. Das Thema wurde richtig interessant.
»Selbstverständlich gefiel es den Wissenschaftlern überhaupt nicht, dass ihre Erkenntnisse von der Kirche dazu benutzt wurden, der Religion neues Gewicht zu verschaffen, und so mathematisierten sie die Urknalltheorie, streiften sämtliche religiösen Untertöne ab und verkauften sie als ihre eigene Entwicklung. Unglücklicherweise jedoch haben all ihre mathematischen Lösungsansätze einen gemeinsamen Schwachpunkt, den die Kirche gerne gegen sie verwendet.«
»Die Singularität.« Kohler spie das Wort aus, als wäre es der Fluch seiner gesamten Existenz.
»Richtig, die Singularität«, sagte Vittoria. »Der genaue Zeitpunkt der Schöpfung. Die Stunde null.« Sie sah Langdon an. »Selbst heute noch ist die Wissenschaft nicht imstande, diesen Augenblick zu formulieren. Unsere Gleichungen erklären das frühe Universum sehr plausibel, doch je weiter wir in der Zeit zurückgehen, je mehr wir uns dem Nullpunkt nähern, desto weniger exakt wird unsere Mathematik. Sie löst sich förmlich auf, und die Ergebnisse werden völlig sinnlos.«
»Richtig«, sagte Kohler mit nervöser Stimme. »Und die Kirche behauptet weiter steif und fest, dass dieser Fehler ein Beweis für Gottes wunderbares Werk sei. Kommen Sie zur Sache, Vittoria.«
Vittorias Gesichtsausdruck wurde entrückt. »Die Sache ist die, dass mein Vater immer an Gottes Beteiligung am Urknall geglaubt hat. Auch wenn die heutige Wissenschaft nicht in der Lage ist, den göttlichen Augenblick der Schöpfung zu verstehen – Vater war überzeugt, dass sie es eines Tages begreifen würde.« Sie trat traurig zu einem Computerausdruck über dem Arbeitsplatz ihres Vaters. »Jedes Mal, wenn ich Zweifel bekam, hielt Vater mir das hier unter die Nase.«
Langdon las den Text:
Wissenschaft und Religion sind kein Widerspruch
die Wissenschaft ist