Illuminati - Dan Brown - Kapitel 10
ungeduldig als besorgt.
»Doch, doch, alles in Ordnung«, antwortete Langdon und setzte einen Fuß in den engen Aufzug. Er benutzte Aufzüge nur, wenn es absolut unumgänglich war. Langdon zog den freien Raum offener Treppenhäuser vor.
»Dr. Vetras Labor liegt unterirdisch«, erklärte Kohler.
Wunderbar, dachte Langdon, als er über die Schwelle trat und den eisigen Lufthauch spürte, der durch den breiten Spalt nach oben zog. Die Tür schloss sich, und der Lift fuhr los.
»Sechs Stockwerke«, sagte Kohler tonlos wie eine analytische Maschine.
Langdon stellte sich die Schwärze des leeren Schachts vor, durch die der Lift nach unten sank. Er versuchte den Gedanken auszusperren, indem er auf das Display und die wechselnden Etagenlichter starrte. Eigenartigerweise blinkten nur zwei: Erdgeschoss und lhc[1].
»Wofür steht lhc?«, fragte Langdon und bemühte sich, nicht nervös zu klingen.
»Für Large Hadron Collider«, sagte Kohler. »Das ist ein Teilchenbeschleuniger.«
Ein Teilchenbeschleuniger? Langdon besaß eine vage Vorstellung davon, was das war. Er hatte den Ausdruck zum ersten Mal beim Abendessen mit ein paar Kollegen im Dunster House in Cambridge gehört. Ein befreundeter Physiker, Bob Brownell, war wutentbrannt zum Essen erschienen.
»Die Bastarde haben den Collider gestrichen!«, hatte Brownell geflucht.
»Wen gestrichen?«, hatten alle gefragt.
»Den ssc!«
»ssc?«
»Superconducting Super Collider. Den Teilchenbeschleuniger!«
Jemand hatte die Schultern gezuckt. »Ich wusste gar nicht, dass Harvard einen baut.«
»Nicht Harvard!«, hatte Brownell geschnaubt. »Die Regierung! Es sollte der stärkste Teilchenbeschleuniger der Welt werden! Eines der wichtigsten wissenschaftlichen Projekte des Jahrhunderts! Zwei Milliarden Dollar wurden bereits hineingesteckt, und dann streicht der Senat das Projekt! Verdammte Bibellobbyisten!«
Schließlich hatte Brownell sich ein wenig beruhigt und erklärt, dass ein Teilchenbeschleuniger eine große, runde Röhre war, in der subatomare Partikel beschleunigt wurden. Starke Magneten rings um die Röhre wurden in rascher Folge ein- und ausgeschaltet und »stießen« die Partikel immer wieder herum, bis sie gewaltige Geschwindigkeiten erreicht hatten. Voll beschleunigte Partikel flogen mit mehr als zweihundertneunzigtausend Kilometern in der Sekunde durch die Röhre.
»Aber das ist ja beinahe Lichtgeschwindigkeit!«, hatte einer der Professoren gerufen.
»Verdammt richtig!«, hatte Brownell gesagt und weiter erklärt, dass man zwei Partikel durch Beschleunigen in entgegengesetzte Richtungen und anschließende kontrollierte Kollision in ihre Bestandteile zerlegen konnte und dass die Wissenschaftler auf diese Weise einen Einblick in die fundamentalsten Bausteine der Natur gewannen. »Teilchenbeschleuniger«, hatte Brownell gesagt, »sind von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Wissenschaft. Teilchenkollisionen sind der Schlüssel zum Verständnis des Universums.«
Der Philosoph der Universität, ein stiller Mann namens Charles Pratt, war nicht sonderlich beeindruckt gewesen. »In meinen Augen sieht das nach einer verdammt steinzeitlichen Methode aus. Als würde man Uhren gegeneinander schlagen, um ihre inneren Bestandteile zu untersuchen.«
Brownell hatte seine Gabel hingeworfen und war aus dem Lokal gestürmt.
Also hat cern einen Teilchenbeschleuniger, dachte Langdon, während der Lift weiter in die Tiefe glitt. Eine runde Röhre zum Zerlegen von Partikeln. Er fragte sich, warum der Beschleuniger unter der Erde lag.
Der Aufzug hielt, und Langdon war erleichtert, wieder Terra firma unter den Füßen zu spüren. Dann öffneten sich die Türen, und seine Erleichterung verflog. Robert Langdon fand sich einmal mehr in einer völlig fremdartigen Welt wieder.
Ein Gang erstreckte sich vom Aufzug scheinbar endlos in beide Richtungen. Es war ein glatter Tunnel mit Betonwänden, breit genug für einen Sattelschlepper. Hell erleuchtet vor dem Aufzug, wo sie standen, doch ein Stück weiter rechts und links herrschte tiefste Dunkelheit. Ein feuchter Wind schlug Langdon entgegen und erinnerte ihn auf beunruhigende Weise daran, dass er sich nun tief unter der Erde befand. Fast konnte er das Gewicht der Felsen über seinem Kopf spüren … für einen Augenblick war er wieder neun Jahre alt. Die Dunkelheit versetzte ihn in die Vergangenheit, zurück zu den fünf Stunden erdrückender Schwärze, die ihn bis heute verfolgten. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an.
Vittoria stieg schweigend aus dem Lift und marschierte los, ohne auf die anderen zu warten. An der Decke flackerten Fluoreszenzlampen auf und erhellten ihren Weg. Es sah beängstigend aus. Als wäre der Tunnel lebendig, dachte Langdon; als würde er ihre Bewegungen erahnen. Langdon und Kohler folgten Vittoria in kurzem Abstand. Hinter ihnen erlosch die Beleuchtung ebenso automatisch, wie sie sich eingeschaltet hatte.
»Dieser Teilchenbeschleuniger«, sagte Langdon leise, »ist er irgendwo hier unten?«
»Das dort ist er.« Kohler deutete nach links auf eine polierte Edelstahlröhre, die an der Wand des Tunnels entlang verlief.
Langdon starrte verwirrt auf das Rohr. »Das ist der Beschleuniger?« Er sah ganz anders aus, als er ihn sich vorgestellt hatte. Eine völlig gerade Röhre, knapp einen Meter im Durchmesser, die sich waagerecht durch den gesamten Tunnel erstreckte und vor und hinter ihnen in der Dunkelheit verschwand. Sieht eher wie ein Hightech-Abwasserrohr aus, dachte Langdon. »Ich dachte eigentlich, Teilchenbeschleuniger wären rund.«
»Dieser Beschleuniger ist rund«, erwiderte Kohler. »Ein perfekter Ring. Er sieht zwar gerade aus, doch das ist eine optische Täuschung. Der Umfang des Tunnels ist so groß, dass Sie die Krümmung in der Dunkelheit nicht wahrnehmen. So, wie Sie die Erde nicht als Kugel wahrnehmen.«
Langdon war verblüfft. Dieser Tunnel soll ein Ring sein? »Aber … er muss riesig sein!«
»Der lhc ist die größte Maschine der Welt.«
Langdon stutzte. Er erinnerte sich, dass der Pilot und Fahrer irgendetwas von einer riesigen Maschine unter der Erde erzählt hatte, doch …
»Der Ring besitzt einen Durchmesser von mehr als acht Kilometern.«
Langdon riss die Augen auf. »Acht Kilometer?« Er starrte den Generaldirektor an, dann blickte er hinaus in den dunklen Tunnel. »Aber … aber das bedeutet ja, dass er siebenundzwanzig Kilometer lang ist!«
Kohler nickte. »Wie gesagt, ein vollkommener Kreis. Er erstreckt sich unterirdisch bis über die französische Grenze. Voll beschleunigte Partikel rasen in einer einzigen Sekunde mehr als zehntausendmal durch den Ring, bevor sie kollidieren.«
Langdons Beine fühlten sich an wie Gummi, als er in die Dunkelheit starrte. »Wollen Sie damit sagen, dass cern Millionen Tonnen Erde bewegt hat, nur um winzige Partikel aufeinander zu schießen?«
Kohler zuckte die Schultern. »Manchmal muss man eben Berge versetzen, um die Wahrheit zu finden.«
16.
Hunderte von Meilen von cern entfernt drang eine Stimme durch das Rauschen eines Walkie-Talkies. »In Ordnung, ich bin jetzt im Korridor.«
Der Wachmann vor den Monitoren drückte den Sendeknopf. »Suchen Sie Kamera Nummer 86. Sie muss irgendwo am anderen Ende sein.«
Eine Weile herrschte Funkstille. Der wartende Wachmann begann zu schwitzen. Schließlich meldete sich das Funkgerät wieder.
»Die Kamera ist nicht hier«, sagte die Stimme. »Ich sehe die Stelle, wo sie montiert war. Irgendjemand muss sie entfernt haben.«
Der Wachmann stieß den Atem aus. »Danke. Warten Sie eine Sekunde, ja?«
Seufzend richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Bank von Monitoren vor sich. Große Bereiche des Komplexes waren für die Öffentlichkeit zugänglich, und es hatte schon früher Fälle von gestohlenen drahtlosen Kameras gegeben. Üblicherweise steckten Scherzbolde dahinter, die auf der Suche nach einem Souvenir waren. Doch sobald eine Kamera aus dem Gebäude verschwand und außer Reichweite war, ging auch ihr Signal verloren, und der Schirm wurde schwarz. Verdutzt starrte der Wachmann auf den Monitor. Kamera Nummer 86 übertrug noch immer ein kristallklares Bild.
Wenn die Kamera gestohlen wurde, fragte er sich, warum erhalten wir dann immer noch ein Signal? Er wusste, dass es dafür nur eine mögliche Erklärung gab. Die Kamera war noch innerhalb des Komplexes. Irgendjemand hatte sie einfach an eine andere Stelle gebracht. Aber wer? Und warum?
Er betrachtete das Bild auf dem Monitor. Schließlich nahm er das Funkgerät wieder auf. »Sind in diesem Treppenhaus irgendwo Schränke? Irgendwelche Kammern oder dunkle Alkoven?«
»Nein.« Die Stimme klang verwirrt. »Wieso?«
Der Wachmann runzelte die Stirn. »Schon gut. Danke für Ihre Hilfe.« Er schaltete das Walkie-Talkie aus und schürzte nachdenklich die Lippen.
Angesichts der geringen Größe und des geringen Gewichts der drahtlosen Kamera konnte sie so gut wie überall innerhalb der schwer bewachten Anlage sein – eine dicht an dicht stehende Ansammlung von zweiunddreißig Einzelgebäuden auf einer kreisförmigen Fläche von anderthalb Kilometern Durchmesser. Der einzige Hinweis war, dass die Kamera an irgendeinem dunklen Ort sein musste. Was natürlich nicht viel weiterhalf. Es gab zahllose dunkle Stellen im Komplex – Spinde und Kammern, Belüftungsschächte, Schränke, ein ganzes Labyrinth aus unterirdischen Tunnels. Es würde Wochen dauern, Kamera Nummer 86 aufzuspüren.
Aber das ist noch das geringste Problem, dachte der Wachmann.
Etwas anderes bereitete ihm sehr viel mehr Kopfzerbrechen, auch wenn es mit Kamera Nummer 86 zusammenhing – und das war das Bild, das sie übertrug. Ein stationäres Objekt, eine kompliziert aussehende Apparatur, wie sie der Wachmann nie zuvor gesehen hatte. Er betrachtete das blinkende elektronische Display an seiner Basis.
Obwohl er eine gründliche Ausbildung absolviert hatte und auf alle nur denkbaren Situationen vorbereitet worden war, spürte er, wie sein Puls schneller ging. Er versuchte sich zu beruhigen. Es musste eine Erklärung geben. Das Objekt war zu klein, um eine signifikante Bedrohung darzustellen. Andererseits war die bloße Anwesenheit dieses fremden Gegenstands im Komplex beunruhigend. Genau genommen sogar äußerst beunruhigend.
Ausgerechnet heute, dachte er.
Sicherheit stand für seinen Arbeitgeber stets an oberster Stelle, doch der heutige Tag war wichtiger als jeder andere in den vergangenen zwölf Jahren. Am heutigen Tag war Sicherheit von allergrößter Bedeutung. Der Wachmann starrte lange Zeit auf das fremdartige Objekt und spürte, wie sich in der Ferne ein Sturm zusammenzubrauen begann.
Dann wählte er schwitzend die Nummer seines Vorgesetzten.
17.
Nicht viele Kinder konnten von sich sagen, dass sie sich an den Tag erinnerten, an dem sie ihren Vater kennen gelernt hatten. Anders Vittoria Vetra. Sie war acht Jahre alt gewesen und hatte gewohnt, wo sie immer gewohnt hatte: im Orfanotrofio di Siena, einem katholischen Waisenhaus in der Nähe von Florenz, ausgesetzt von Eltern, die sie niemals gekannt hatte. Es hatte geregnet an jenem Tag. Die Nonnen hatten sie zweimal zum Abendessen gerufen, doch wie stets hatte sie getan, als höre sie nichts. Sie lag draußen im Hof und starrte die Regentropfen an … spürte, wie