Finsternis im Wunderland - Kapitel 2
Leute mit einer Axt umgebracht«, sagte er.
»Wie hast du denn vorher geheißen?«, fragte Alice. Überraschenderweise verstörte es sie überhaupt nicht zu erfahren, dass ihr neuer Freund ein Axtmörder war. Es schien nichts damit zu tun zu haben, was er jetzt war, eine raue Stimme und graue Augen durch ein Loch in der Wand.
»Das weiß ich nicht mehr«, sagte er. »Ich erinnere mich an überhaupt nichts von davor, um ehrlich zu sein. Sie haben mich mit einer blutigen Axt in der Hand gefunden, und fünf Leute lagen tot um mich herum, alle in Stücke gehackt. Ich hab versucht, dasselbe mit der Polizei zu machen, als sie mich holen wollten, also muss ich diese Leute wohl umgebracht haben.«
»Warum hast du das denn getan?«
»Weiß ich nicht mehr«, sagte er, und seine Stimme veränderte sich ein wenig, wurde härter. »Es ist, als wäre da ein Nebel vor meinen Augen, schwarzer Rauch, der alles ausfüllt. Ich erinnere mich an das Gewicht der Axt in meiner Hand und an das heiße Blut auf meinem Gesicht und in meinem Mund. Ich erinnere mich an das Geräusch der Axt in weichem Fleisch.«
»Daran erinnere ich mich auch«, sagte Alice, ohne zu wissen, warum sie das sagte. Einen Augenblick lang war es wahr gewesen. Sie konnte hören, wie ein Messer durch Haut drang, dieses gleitende, schneidende Geräusch, und jemand schrie.
»Hast du auch eine Menge Leute umgebracht?«, fragte Hatcher.
»Weiß ich nicht«, antwortete Alice. »Könnte sein.«
»Ist in Ordnung, falls du’s gemacht hast«, sagte Hatcher. »Ich würd’s verstehen.«
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Alice. »Ich erinnere mich an davor, und ich erinnere mich an danach, aber die zwei Wochen dazwischen sind weg, abgesehen von ein paar Schlaglichtern.«
»Der Mann mit den langen Ohren.«
»Ja«, sagte Alice. Der Mann, der sie gejagt hatte, gesichtslos, durch ihre Albträume.
»Wenn wir rauskommen, finden wir ihn, und dann wirst du erfahren, was mit dir passiert ist«, sagte Hatcher.
Das war vor acht Jahren gewesen, und sie waren beide immer noch hier, in nebeneinanderliegenden Zellen in einem Irrenhaus, das keinerlei Anstalten machte, sie jemals freizulassen.
»Alice?«, fragte Hatcher wieder. »Ich kann nicht schlafen.«
Sie blinzelte die Erinnerung fort, die der Mond und seine Stimme heraufbeschworen hatten.
»Ich kann auch nicht schlafen, Hatch«, sagte sie und kroch über den Boden zum Mauseloch. Hier unten war es viel dunkler. Kein Licht drang in ihre Zellen, abgesehen vom silbernen Mondlicht durch die Gitterstäbe und hin und wieder dem Schein einer Lampe des wachhabenden Pflegers, der die Gänge abschritt. Sie konnte die Farbe seines Auges nicht erkennen, nur den feuchten Glanz.
»Der Jabberwock ist aufgewacht, Alice«, sagte Hatcher.
Da fiel ihr auf, wie dünn und verzagt seine Stimme klang. Hatcher hatte nicht oft Angst. Meistens wirkte er stark, beinahe erbarmungslos stark. Den ganzen Tag hatte sie ihn nebenan vor Anstrengung stöhnen hören, während er seine Kraftübungen machte. Wenn die Pfleger kamen, um Hatcher zum Baden abzuholen, wurde es immer ziemlich laut, es wurde geschlagen und getreten und herumgeschrien. Mehr als einmal hatte Alice das Knirschen eines brechenden Knochens und den wütenden Fluch eines Pflegers gehört.
Einmal hatte sie ihn gefragt, wieso er keine Spritzen bekam wie die anderen Störenfriede. Er hatte nur gegrinst, Fältchen hatten sich rund um seine Augen gebildet, und er hatte gesagt, dass die Spritzen ihn wild gemacht hätten, wilder als sowieso schon, weshalb sie ihn damit in Ruhe ließen. Er bekam nicht mal Pulver in sein Essen.
Hatcher hatte nie Angst, außer wenn er vom Jabberwock redete.
»Es gibt keinen Jabberwock, Hatcher«, sagte Alice mit leiser und beruhigender Stimme. Sie kannte die Geschichten über das Ungeheuer, hatte sie schon gehört. Nicht oft, auch wenn er in letzter Zeit häufiger daran zu denken schien.
»Ich weiß, du glaubst nicht an ihn. Aber er ist hier, Alice. Sie halten ihn unten gefangen, im Keller. Und wenn er aufwacht, kann ich ihn spüren«, sagte Hatcher.
In der Angst schwang etwas Flehendes mit, und Alice gab nach. Immerhin glaubte sie an einen Mann mit Kaninchenohren, und Hatcher akzeptierte das fraglos.
»Was kannst du spüren?«, fragte sie.
»Ich spüre, wie die Nacht überall hochkriecht und den Mond auslöscht. Ich spüre Blut, das an den Wänden herunterrinnt, Ströme aus Blut in den Straßen unten. Und ich spüre, wie sich seine Zähne um mich herum schließen. Das wird er tun, Alice, wenn er jemals rauskommt. Er ist schon lange hier eingesperrt, viel länger als du oder ich.«
»Wie sollte denn irgendwer ein solches Ungeheuer einsperren können?«, überlegte Alice laut.
Hatcher rutschte unruhig auf dem Fußboden herum. Sie konnte hören, wie er sich wand. »Ich weiß es nicht genau«, sagte er, und seine Stimme klang leiser, sodass sie sich anstrengen musste, um ihn zu hören. »Es muss wohl ein Zauberer gewesen sein.«
»Ein Zauberer?«, fragte Alice. Das war sogar für Hatcher weit hergeholt. »Es gibt keine Zauberer mehr, sie sind alle weg. Entweder verjagt oder getötet, vor Jahrhunderten schon, während der Großen Reinigung. So alt ist dieses Gebäude hier nicht. Wie sollte ein Zauberer den Jabberwock gefangen und hier eingesperrt haben?«
»Nur ein Zauberer wäre dazu fähig«, beharrte Hatcher. »Kein normaler Mensch würde eine Begegnung mit dem Jabberwock überleben.«
Mit der Geschichte vom Monster im Keller wollte Alice gern mitgehen, aber seine Einbildungen von Zauberern konnte sie wirklich nicht bestärken. Allerdings erschien es ihr auch nicht ratsam, ihm zu widersprechen. Hatcher nahm keine Pulver und bekam keine Spritzen und konnte sich ziemlich doll aufregen. Wenn er sich aufregte, heulte er manchmal stundenlang oder schlug mit den Fäusten gegen die Wand, bis sie blutig waren, trotz der Polsterung.
Also sagte sie nichts, sondern lauschte nur seinem flachen Atem und den Schreien der anderen Insassen, die durch das Gebäude hallten.
»Ich wünschte, ich könnte deine Hand halten«, sagte Hatcher. »Ich habe dich noch nie ganz gesehen, weißt du. Immer nur Teile durch das Loch. Ich versuche, alle die Teile in meinem Kopf zusammenzusetzen, damit ich dich ganz sehen kann, aber es will nicht so recht passen.«
»Du bist in meinem Kopf auch nur graue Augen und ein Bart«, sagte Alice.
Hatcher lachte leise, aber es klang keine Freude darin. »Wie das Kaninchen, nur Augen und Fell. Was wäre gewesen, wenn wir uns auf der Straße begegnet wären, Alice? Hätten wir uns gegrüßt?«
Sie zögerte. Sie wollte ihn nicht verletzen, aber sie wollte auch nicht lügen. Ihre Eltern logen. Sie sagten Sachen wie »Gut siehst du aus« und »Bestimmt kannst du bald nach Hause kommen«. Alice wusste, dass es nicht die Wahrheit war.
»Alice?«, fragte Hatcher wieder und holte sie zu ihm zurück.
»Ich weiß nicht, ob wir uns gegrüßt hätten«, sagte sie vorsichtig. »Ich habe in der Neuen Stadt gewohnt, und ich glaube … Du machst mehr den Eindruck, als kämst du aus der Alten Stadt.«
»Vornehm, vornehm«, sagte Hatcher, und seine Stimme klang hart. »Das edle Fräulein würde sich ihr Kleidchen nicht in der Alten Stadt schmutzig machen. Nur dass du das getan hast. Und zwar gründlich, und auch mehr als nur das Kleidchen. Und jetzt bist du hier, genau wie ich.«
Seine Worte fühlten sich an wie geballte Fäuste, die ihr in den Magen schlugen, und einen Moment lang schienen sie ihr den Atem aus der Lunge zu treiben. Aber sie waren wahr, und sie würde nicht so tun, als sei es anders. Die Wahrheit war alles, was ihr noch geblieben war. Die Wahrheit und Hatcher.
»Ja«, sagte sie. »Wir sind beide hier.«
Danach schwiegen sie lange. Alice wartete in der Dunkelheit, während das Mondlicht über den Boden wanderte. Hatcher schien heute Abend auf Messers Schneide zu balancieren, und sie würde nicht diejenige sein, die ihn in den Abgrund stieß.
»Es tut mir leid, Alice«, sagte er schließlich und klang schon mehr nach dem Hatcher, den sie kannte.
»Lass …«, fing sie an, doch er fiel ihr ins Wort.
»Nein, ich sollte so etwas nicht sagen. Du bist mein einziger Lichtblick, Alice. Ohne dich hätte ich mich längst dem allen hier ergeben. Aber der Jabberwock ist wach und lässt mich an Dinge denken, an die ich nicht denken sollte.«
»Das Geräusch eines Beils, das in Fleisch dringt«, sagte sie.
»Und warmes Blut auf meinen Händen«, ergänzte Hatcher. »Ich fühle mich beinahe wie ich selbst, wenn ich so was denke. Als wäre es das, was ich wirklich bin.«
»Immerhin hast du eine Ahnung davon«, sagte Alice. »Ich hatte nie die Chance zu werden, wer ich wirklich bin. Ich hab mich schon vorher verlaufen.«
Sie hörte, wie er wieder auf dem Boden herumrutschte.
»Das fühlt sich an, als hätte ich Käfer unter der Haut«, sagte er. »Sing mir was vor.«
»Ich kenne keine Lieder«, sagte sie überrascht.
»Klar kennst du welche«, sagte er. »Du singst den ganzen Tag, und wenn du nicht singst, dann summst du vor dich hin. Irgendwas über einen Schmetterling.«
»Einen Schmetterling?«, fragte sie, aber sobald sie es ausgesprochen hatte, fiel es ihr wieder ein, und sie hörte die Stimme ihrer Mutter. Es schmerzte, tat so weh, dass es ihr einen Stich ins Herz versetzte, diese Erinnerung an eine Liebe, die für sie auf immer verloren war. Sie begann laut zu singen, um die Erinnerung mit ihrer eigenen Stimme zu überdecken.
Schlaf, kleiner Schmetterling, schlaf
Schlaf, kleiner Schmetterling, schlaf
Nun wo der Tag vergangen ist
Schlaf, kleiner Schmetterling, schlaf
Bis bald der Morgen kommen wird.
Schließ nun die kleinen Äugelein
Und lass die Nacht um dich herein
So wirst du warm und sicher sein
Schlaf, kleiner Schmetterling, schlaf
Bis bald der Morgen kommen wird.
Ihre Stimme verklang, Liebe und Verlust und Schmerz schnürten ihr die Kehle zu. Hatcher sagte nichts, aber sie hörte, wie sein Atem tiefer und gleichmäßiger wurde, und so ließ sie selbst die Augen zufallen. Sie passte ihren Atem seinem Rhythmus an, und es war fast, als hielte sie seine Hand, während die Nacht sie beide einhüllte.
Alice träumte von Blut. Blut auf ihren Händen und unter ihren Füßen, Blut in ihrem Mund und Blut, das aus ihren Augen strömte. Der ganze Raum war voll damit. Vor der Tür stand Hatcher Hand in Hand mit etwas Dunklem und Abscheulichem, einem Ding aus Schatten mit silbern blitzenden Zähnen.
»Nimm ihn mir nicht weg«, sagte sie, oder besser, versuchte sie zu sagen, denn sie konnte nicht sprechen durch das ganze Blut in ihrem Mund, das sie erstickte. Dann verschleierte Rauch ihren Blick, und sie konnte weder Hatcher noch das Ungeheuer mehr erkennen. Hitze umhüllte ihren Körper, und dann war da nichts mehr außer Feuer.
Feuer. Feuer.
»Alice, wach auf! Es brennt!«
Alice öffnete die Augen. Hatchers graues Auge war an das Mauseloch gepresst, und es blickte wild vor Angst und Erwartung.
»Endlich!«, rief er. »Bleib am Boden, weg vom Rauch, und kriech zur Tür, aber nicht direkt davor.«
Alice blinzelte, als er verschwand. Der Traum hing noch in ihrem Gehirn, und ihr Mund war ganz trocken. Ihr Kittel klebte an ihrem Körper, und ihr Gesicht war schweißnass. Als der Rauchgeruch endlich durch ihre Nase in ihren benebelten Kopf drang, brachte er noch einen anderen Geruch mit sich, den Geruch von bratendem Fleisch. Sie wollte nicht darüber nachdenken, woher der kam.
Alice drehte sich um, sodass sie flach auf dem Rücken lag, und sah wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt eine dichte Rauchdecke hängen. Der Boden unter ihr war so heiß, dass es wehtat, darauf zu liegen, aber es gab keine Möglichkeit, diesem quälenden Schmerz zu entkommen.
Dann drangen Geräusche zu ihr durch. Das Knistern der Flammen, schwere Gegenstände, die krachend zusammenbrachen. Schreckliche, schreckliche Schreie. Und ganz in der Nähe rhythmisches Stöhnen und Grunzen, als würde sich jemand mit dem ganzen Körper gegen die Wand werfen. Hatch versuchte, die Tür zu seiner Zelle aufzubrechen.
Es hörte sich furchtbar an. Alice glaubte nicht, dass er es schaffen konnte. Die Wände mochten weich gepolstert sein, aber die Türen waren aus Eisen. Er würde sich umbringen.
»Hatcher, nein!«, schrie sie, doch er konnte sie nicht hören.
Dann knirschte etwas, aber Hatcher schrie nicht auf, und dann wurde es noch lauter.
»Hatcher«, sagte sie, und ihre Stimme klang sanft und traurig. Aus jedem ihrer Augenwinkel quoll eine Träne. Es hatte keinen Sinn mehr, aufstehen zu wollen – Hatcher war tot. Der Rauch und der schreckliche Lärm verrieten Alice, dass draußen das Feuer wütete. Die Pfleger und die Ärzte würden sich nicht damit aufhalten, die Patienten zu befreien, ganz besonders nicht, wenn die meisten