Ferdinand von Schirach - Sammlung - Der Andere - Ferdinand von Schirach
Der Andere
Paulsberg stand neben seinem Auto. Wie jeden Abend war er auf dem Weg nach Hause abgebogen und hoch auf die kleine Anhöhe zu seiner alten Esche gefahren. Hier hatte er als Kind oft gesessen, im Schatten des Baumes, hatte Figuren aus Holz geschnitzt und die Schule geschwänzt. Er ließ die Fenster herunter, die Tage wurden schon wieder kürzer, die Luft kälter. Es war still. Der einzige Moment des Tages. Das Mobiltelefon war ausgeschaltet. Er konnte von hier aus sein Haus sehen, das Haus, in dem er aufgewachsen war, der Urgroßvater hatte es gebaut. Es war hell erleuchtet, die Bäume im Garten angestrahlt, er sah die Wagen am Weg stehen. In ein paar Minuten würde er dort sein, die Gäste würden bereits warten, er würde sich über all den Unsinn unterhalten müssen, den gesellschaftliches Leben ausmacht.
Paulsberg war jetzt 48. Er besaß in Deutschland und Österreich siebzehn große Ladengeschäfte, teure Bekleidung für Herren. Sein Urgroßvater hatte die Strickwarenfabrik hinten im Tal gegründet, Paulsberg hatte alles über Stoffe und Schnitte schon als Kind gelernt. Er hatte die Fabrik verkauft.
Er dachte an seine Frau. Sie würde alle unterhalten, elegant, schmal, hinreißend. Sie war 36, Anwältin in einer internationalen Kanzlei, schwarzes Kostüm, die Haare offen. Er hatte sie im Flughafen in Zürich kennengelernt. Sie hatten gemeinsam an der Cafébar auf das verspätete Flugzeug gewartet, er hatte sie zum Lachen gebracht. Sie hatten sich verabredet. Zwei Jahre später hatten sie geheiratet, acht Jahre war das her. Die Dinge hätten gut gehen können.
Aber dann war die Sache in der Hotelsauna passiert und hatte alles verändert.
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Seit ihrer Hochzeit fuhren sie jedes Jahr für ein paar Tage in das Alpenhotel in Oberbayern. Sie mochten diese Entspannung, schlafen, wandern, essen. Das Hotel bekam Auszeichnungen für den »Wellnessbereich«. Es gab Dampfbäder und finnische Saunen, Innen- und Außenpools, Massagen und Fangopackungen. In der Parkgarage standen Mercedes, BMW, Porsche. Man war unter sich.
Paulsberg hatte wie die meisten Männer seines Alters einen Bauchansatz, seine Frau hatte sich besser gehalten. Er war stolz auf sie. Sie saßen in der Dampfsauna. Er beobachtete den jungen Mann, der seine Frau anstarrte, schwarze Haare, ein Südländer, vielleicht Italiener, gut aussehend, glatte Haut, gebräunt, etwa 25. Der Fremde betrachtete seine Frau wie ein schönes Tier. Sie war irritiert. Er lächelte sie an, sie sah zur Seite. Dann stand er auf, sein Penis war halb erigiert, er ging Richtung Ausgang, dann blieb er vor ihr stehen, drehte sich zu ihr, sein Geschlecht vor ihrem Gesicht. Paulsberg wollte gerade eingreifen, als er sich ein Handtuch um die Hüften wickelte und ihm zunickte.
Später auf dem Zimmer machten sie Witze über die Situation. Sie sahen den Fremden beim Abendessen, Paulsbergs Frau lächelte ihn an und wurde rot. Den Rest des Abends sprach das Ehepaar über den Fremden, und nachts stellten sie sich vor, wie es mit ihm wäre. In dieser Nacht schliefen sie seit Langem wieder miteinander. Sie hatten Angst und Lust.
Am nächsten Tag gingen sie wieder zur gleichen Zeit in die Sauna, der Fremde wartete bereits. Sie öffnete ihr Handtuch schon an der Tür, sie ging langsam und nackt an dem Fremden vorbei, sie wusste, was sie tat, und sie wollte, dass er es wusste. Er stand auf und stellte sich wieder vor sie. Sie saß auf der Bank. Sie sah erst ihn an, dann Paulsberg. Paulsberg nickte langsam, er sagte laut: »Ja.« Sie nahm den Penis des Fremden in die Hand. Paulsberg sah im Dampf der Sauna die rhythmische Bewegung ihres Armes, er sah den Rücken des jungen Mannes vor seiner Frau, er glänzte oliv und feucht. Niemand sprach, er hörte den Fremden keuchen, der Arm seiner Frau wurde langsamer. Dann drehte sie sich zu Paulsberg, sie zeigte ihm das Sperma des Fremden auf ihrem Gesicht und ihrem Körper. Der Fremde nahm sein Handtuch, er verließ wortlos die Sauna. Sie blieben zurück in der Hitze.
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Sie probierten es zuerst in öffentlichen Saunen, dann in Swingerclubs, und am Ende schalteten sie Anzeigen im Internet. Sie stellten Regeln auf: keine Gewalt, keine Liebe, kein Treffen zu Hause. Sie wollten alles abbrechen, wenn einer von beiden sich nicht wohlfühlen würde. Sie brachen nie etwas ab. Am Anfang schrieb er die Anzeigen, dann übernahm sie es, sie stellten maskierte Fotos auf die Webseiten. Nach vier Jahren kannten sie sich aus. Sie hatten ein Hotel auf dem Land gefunden, das diskret war. Sie trafen sich dort an den Wochenenden mit Männern, die ihnen auf ihre Annoncen geantwortet hatten. Er sagte, er stelle seine Frau zur Verfügung. Sie glaubten, es sei ein Spiel, aber nach den vielen Treffen war es kein Spiel mehr, es war ein Teil von ihnen geworden. Seine Frau war immer noch Anwältin, sie war immer noch strahlend und unnahbar, aber an den Wochenenden wurde sie zum Objekt, das andere benutzten. Sie wollten es so. Es war einfach da gewesen, es gab keine Erklärung.
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Der Name in der E-Mail hatte ihm nichts gesagt, auch das Foto konnte er niemandem zuordnen, er sah die Bilder, die die Männer schickten, längst nicht mehr an. Seine Frau hatte dem Mann zurückgeschrieben, nun stand er vor ihnen in der Hotelhalle: Paulsberg kannte ihn aus der Schule, flüchtig, 35 Jahre war das her. Sie hatten dort nichts miteinander zu tun gehabt, er war in der Parallelklasse. Sie setzten sich auf die Barhocker der Lobby im Hotel und erzählten sich die Dinge, die sich Schulfreunde immer erzählen, sie sprachen von alten Lehrern, von Freunden, die sie gemeinsam kannten und versuchten, die Situation zu vergessen. Es wurde trotzdem nicht besser. Der Andere bestellte Whisky statt Bier, er sprach zu laut. Paulsberg kannte die Firma, für die er arbeitete, er war in der gleichen Branche. Sie aßen zu dritt zu Abend, der Andere trank zu viel. Er flirtete mit Paulsbergs Frau, er sagte, sie sei schön und jung, Paulsberg sei zu beneiden, und er trank weiter. Paulsberg wollte gehen. Sie begann, über Sex zu sprechen, über die Männer, die ihr Bilder schickten, die sie trafen. Irgendwann legte sie ihre Hand auf die Hand des Anderen. Sie gingen in das Zimmer, das sie immer buchten.
Als der Andere mit seiner Frau schlief, saß Paulsberg auf dem Sofa. Er sah sich das Bild über dem Bett an: Eine junge Frau steht am Meer, der Künstler hatte sie von hinten gemalt, sie trägt einen blau-weißen Badeanzug wie in den Zwanzigerjahren. »Sie muss schön sein«, dachte er. Irgendwann würde sie sich umdrehen, den Maler anlächeln und mit ihm nach Hause gehen. Paulsberg dachte daran, dass sie jetzt seit acht Jahren verheiratet waren.
Als sie später alleine im Wagen saßen, schwiegen beide, sie sah aus dem Beifahrerfenster ins Dunkle, bis sie zu Hause waren. Nachts ging er in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, und als er zurückkam, sah er auf ihrem Nachttisch das Display ihres Telefons leuchten.
Sie nahm längst Prozac, ein Antidepressivum. Sie glaubte, davon abhängig zu sein, sie verließ nie das Haus ohne die weiß-grüne Packung. Sie wusste nicht, warum sie die Männer befriedigte. Manchmal nachts, wenn es im Haus still geworden war, wenn Paulsberg schlief und sie die hellgrünen Ziffern ihres Weckers nicht mehr ertragen konnte, zog sie sich an und ging in den Garten. Sie legte sich auf einen der Liegestühle am Pool, sie sah in den Himmel, sie wartete auf das Gefühl, das sie kannte, seit ihr Vater gestorben war. Sie konnte es kaum ertragen. Es gab Milliarden von Sonnensystemen in dieser Milchstraße und Milliarden solcher Milchstraßen. Dazwischen war es kalt und leer. Sie hatte die Kontrolle verloren.
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Paulsberg hatte den Anderen längst wieder vergessen. Er war auf der Jahreskonferenz des Verbandes, die jedes Jahr in Köln stattfand. Er stand im Frühstückssaal am Büfett. Der Andere rief seinen Namen. Paulsberg drehte sich um.
Plötzlich bewegte sich die Welt langsamer, sie wurde zähflüssig. Später konnte er sich an jedes Bild erinnern, an die Butter, die in Eiswasser schwamm, an die bunten Joghurtbecher, die roten Servietten und die Wurstscheiben auf dem weißen Hotelporzellan. Paulsberg dachte, der Andere sehe wie einer dieser blinden Lurche aus. Er hatte sie als Kind in den lichtlosen Höhlen in Jugoslawien gesehen. Damals hatte er einen gefangen, er hatte ihn den ganzen Weg zum Hotel in der Hand gehalten, er wollte ihn seiner Mutter zeigen. Als er die Hand geöffnet hatte, war er tot gewesen. Der Andere war glatt rasiert, wässrige Augen, dünne Brauen, wulstige Lippen, fast blau. Sie hatten seine Frau geküsst. Die Zunge des Anderen bewegte sich in Zeitlupe, sie stieß an die Innenseite der Vorderzähne, als er seinen Namen sagte. Paulsberg sah die farblosen Speichelfäden, die Poren auf seiner Zunge, die langen dünnen Nasenhaare, den Kehlkopf, der von innen hart gegen die gerötete Haut drückte. Paulsberg verstand nicht, was der Andere sagte. Er sah das Mädchen im blau-weißen Badeanzug von dem Hotelbild, sie drehte sich zu ihm um, sie lächelte, dann zeigte sie auf den dünnen Mann, der über seiner Frau kniete. Paulsberg spürte, wie sein Herzschlag aussetzte, er stellte sich vor, wie er umfallen und die Tischdecken herunterreißen würde. Er sah sich tot zwischen den Orangenscheiben, den Weißwürsten und dem Frischkäse liegen. Aber er fiel nicht. Es war nur ein Moment. Er nickte dem Anderen zu.
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Auf der Konferenz des Verbandes wurden die üblichen Reden gehalten. Sie sahen sich Präsentationen an, es gab Filterkaffee aus silbernen Thermoskannen. Nach ein paar Stunden hörte keiner mehr zu. Es war nichts Besonderes.
Am Nachmittag kam der Andere in sein Zimmer. Sie tranken das Bier, das er mitgebracht hatte. Er hatte auch Kokain dabei und bot Paulsberg eine Linie an, er schüttete das Pulver auf den Glastisch und zog es sich durch einen gerollten Geldschein in die Nase. Als er ins Bad wollte, um sich die Hände zu waschen, folgte Paulsberg ihm. Der Andere stand vor dem Waschbecken, er hatte sich runtergebeugt, um sich das Gesicht zu waschen. Paulsberg sah die Ohren des Anderen, er sah den vergilbten Rand des weißen Hemdkragens.
Er konnte nicht anders.
Jetzt saß Paulsberg auf dem Bett. Das Hotelzimmer war wie die tausend anderen, in denen er geschlafen hatte. Zwei Schokoladenriegel in der braunen Minibar, eingeschweißte Erdnüsse, der gelbe Flaschenöffner aus Plastik. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln, flüssige Seife im Bad und das Schild auf den Kacheln, dass es der Umwelt helfe, wenn man die Handtücher mehrmals benutze.
Er schloss die Augen und dachte an das Pferd. Am Morgen war er über die Brücke gegangen, weiter über die Steintreppe zu den Rheinauen in den Frühnebel, der vom Fluss hochkam. Und plötzlich hatte es vor ihm gestanden, dampfend, die Nüstern hellrot und weich.
Irgendwann würde er sie anrufen müssen. Sie würde ihn fragen, wann er zurückkomme. Sie würde von ihrem Tag erzählen, von den Leuten in der Kanzlei, der Putzfrau, die die Mülltonnen zu laut zuschlage, und all den anderen Dingen, die ihr Leben ausmachten. Er würde nicht über den Anderen sprechen. Und dann würden sie auflegen und versuchen weiterzuleben.
Paulsberg hörte den Anderen im Bad stöhnen. Er warf die Zigarette in ein halb volles Wasserglas, nahm seine Reisetasche, verließ das Zimmer. Als er an der Rezeption die Rechnung bezahlte, sagte er, es sei besser, oben schnell aufzuräumen. Das Mädchen hinter dem Tresen sah ihn an, aber er sagte sonst nichts.
Sie fanden den Anderen zwanzig Minuten später. Er überlebte.
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Paulsberg hatte es mit dem Aschenbecher aus dem Zimmer gemacht. Er war aus dunklem Rauchglas, Siebzigerjahre, schwer und dick. Der Gerichtsmediziner nannte es später stumpfe Gewalteinwirkung, die Ränder der Einschlagstellen waren nicht scharf abzugrenzen. Der Aschenbecher passte als Tatwerkzeug.
Paulsberg hatte die Löcher im Kopf des Anderen gesehen, aus ihnen war Blut gequollen, heller, als er es erwartet hatte. »Er stirbt nicht«, hatte Paulsberg gedacht, während er weiter die Schädeldecke zerschlagen hatte, »er blutet, aber er stirbt nicht.« Am Ende hatte Paulsberg den Anderen zwischen Badewanne und Toilette eingeklemmt, seinen Kopf hatte er mit dem Gesicht auf den Toilettendeckel gelegt. Paulsberg hatte ein letztes Mal zuschlagen wollen. Er hatte ausgeholt. Die Haare des Anderen waren verklumpt gewesen, sie hatten im Blut hart ausgesehen, schwarze Drahtstifte auf der hellen Kopfhaut. Plötzlich hatte Paulsberg an seine Frau denken müssen. Wie sie sich das erste Mal verabschiedet hatten, im Januar vor zehn Jahren, Himmel aus Eis, sie hatten auf der Straße vor dem Flughafen gestanden und gefroren. Er hatte an ihre dünnen Schuhe im Schneematsch gedacht, an den blauen Mantel mit den großen Knöpfen, sie hatte den Kragen hochgeklappt, sich mit einer Hand das Revers zugehalten, sie hatte gelacht, sie war einsam gewesen und schön und verletzt. Als sie ins Taxi gestiegen war, hatte er gewusst, dass sie zu ihm gehörte.
Paulsberg hatte den Aschenbecher auf den Boden gestellt, die Beamten fanden ihn später zwischen den roten Schlieren auf den Kacheln. Der Andere hatte noch leise geröchelt, als er ging. Paulsberg hatte nicht mehr töten wollen.
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Die Hauptverhandlung begann fünf Monate später. Paulsberg war wegen versuchten Mordes angeklagt. Er habe versucht, den Anderen von hinten zu erschlagen, sagte der Staatsanwalt. In der Anklageschrift stand, es sei um Kokain gegangen. Der Staatsanwalt konnte es nicht besser wissen.
Paulsberg nannte keinen Grund für die Tat, er sprach nicht über den Anderen. »Rufen Sie meine Frau an«, war das Einzige, was er den Polizisten nach seiner Festnahme gesagt hatte, mehr gab es nicht. Die Richter suchten das Motiv. Niemand erschlägt einfach einen anderen in seinem Hotelzimmer, der Staatsanwalt hatte keine Verbindung zwischen den Männern finden können. Der Psychiater hatte gesagt, Paulsberg sei »völlig normal«, in seinem Blut wurden keine Drogen gefunden, niemand glaubte, er habe aus Mordlust getötet.
Der Einzige, der Aufschluss hätte geben können, war der Andere. Aber auch er schwieg. Die Richter konnten ihn nicht zwingen auszusagen. Die Polizei hatte in seiner Tasche und auf dem Glastisch Kokain gefunden, es lief ein Ermittlungsverfahren gegen ihn, und das erlaubte ihm zu schweigen – er hätte sich mit einer Aussage selbst belasten können.
Natürlich müssen Richter das Motiv eines Angeklagten nicht kennen, um ihn verurteilen zu können. Aber sie wollen wissen, warum Menschen tun, was sie tun. Und nur wenn sie es verstehen, können sie den Angeklagten nach seiner Schuld bestrafen. Verstehen sie es nicht, fällt die Strafe fast immer höher aus.
Die Richter wussten nicht, dass Paulsberg seine Frau schützen wollte. Sie war Anwältin, er hatte ein Verbrechen begangen. Ihre Kanzlei hatte sie noch nicht entlassen: Niemand kann etwas für einen verrückten Ehemann. Aber die Partneranwälte würden die Wahrheit, sie würden die fremden Männer nicht akzeptieren können, und sie hätte in der Kanzlei so nicht weiterarbeiten können. Paulsberg überließ die Entscheidung seiner Frau. Sie sollte tun, was sie für richtig hielt.
Sie erschien ohne Zeugenbeistand. Sie wirkte zerbrechlich, zu filigran für Paulsberg. Der Vorsitzende belehrte sie. Niemand glaubte, es könne in diesem Prozess noch etwas passieren. Aber als sie zu reden begann, änderte sich alles.
In fast jedem Schwurgerichtsprozess gibt es diesen einen Moment, in dem plötzlich alles klar wird. Ich dachte, sie würde über die fremden Männer sprechen. Aber sie erzählte eine andere Geschichte. Sie sprach 45 Minuten ohne jede Unterbrechung, sie war klar, eindeutig und ohne Widersprüche. Sie sagte, sie habe eine Affäre mit dem Anderen gehabt, Paulsberg habe das herausbekommen. Er habe sich von ihr trennen wollen. Er sei verrückt vor Eifersucht gewesen. Es sei ihre Schuld, nicht seine. Sie sagte, ihr Mann habe den Film gefunden, den sie und ihr Liebhaber gemacht hätten. Sie übergab dem Gerichtsdiener eine DVD. Paulsberg und sie hatten oft solche Filme gemacht, dieser stammte von dem Treffen mit dem Anderen, die Videokamera hatte auf einem Stativ neben dem Bett gestanden. Die Öffentlichkeit wurde ausgeschlossen, wir mussten ihn ansehen. Auf unzähligen Seiten im Internet findet man solche Filme. Es gab keinen Zweifel, der Andere war der Mann, der mit ihr geschlafen hatte. Der Staatsanwalt beobachtete Paulsberg während der Vorführung. Er blieb ruhig.
Der Staatsanwalt hatte noch einen weiteren Fehler gemacht. Unser Strafgesetz ist über 130 Jahre alt. Es ist ein kluges Gesetz. Manchmal laufen die Dinge nicht so, wie der Täter es will. Sein Revolver ist geladen, er hat fünf Schuss. Er geht auf sie zu, er schießt, er will sie töten. Viermal verfehlt er sein Ziel, nur ein Streifschuss trifft sie am Arm. Dann steht er direkt vor ihr. Er stößt den Lauf des Revolvers gegen ihren Bauch, er spannt den Hahn, er sieht das Blut ihren Arm herunterlaufen, er sieht ihre Angst. Vielleicht denkt er jetzt noch einmal nach. Ein schlechtes Gesetz würde den Mann wegen Tötungsversuchs verurteilen, ein kluges Gesetz will die Frau retten. Unser Strafgesetzbuch sagt, er kann von seinem Versuch zu töten straffrei zurücktreten. Das heißt: Wenn er jetzt aufhört, wenn er sie nicht tötet, wird er nur wegen einer gefährlichen Körperverletzung bestraft – nicht aber wegen Mordversuchs. Es liegt also an ihm, das Gesetz wird ihn freundlich behandeln, wenn er jetzt noch das Richtige tut, wenn er sein Opfer am Leben lässt. Die Professoren nennen das »goldene Brücke«. Ich mochte diesen Ausdruck nie, die Dinge sind zu schwierig, die dabei in einem Menschen vorgehen, und eine goldene Brücke passt besser in einen chinesischen Garten. Aber die Idee des Gesetzes ist richtig.
Paulsberg hatte aufgehört, den Kopf des Anderen zu zerschlagen. Er wollte ihn am Ende nicht mehr töten. Damit trat er von dem Mordversuch zurück, die Richter konnten ihn nur wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilen.
Das Gericht konnte weder die Einlassung Paulsbergs noch die Aussage seiner Frau und damit sein Motiv widerlegen. Die Schwurgerichtskammer verurteilte ihn zu drei Jahren und sechs Monaten.
Seine Frau besuchte ihn regelmäßig im Gefängnis, dann wurde er in den offenen Vollzug verlegt. Zwei Jahre nach dem Prozess wurde die restliche Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Sie kündigte ihre Stelle in der Kanzlei, und sie zogen in ihre Heimatstadt nach Schleswig-Holstein. Sie eröffnete dort eine kleine Anwaltspraxis. Er hatte seine Läden und das Haus verkauft und begann zu fotografieren. Vor Kurzem hatte er in Berlin seine erste Ausstellung: Alle Fotos zeigten eine nackte Frau ohne Gesicht.