Fallen 01 - Engelsnacht - Seite 2
Zerspringen klopfen.
Sie hatte recht. Es gab nichts Wichtigeres. Nie hatte es etwas Wichtigeres gegeben. Er wollte gerade nachgeben und sie in die Arme nehmen, als er den merkwürdigen Blick in ihren Augen bemerkte. Als ob sie ein Gespenst gesehen hätte.
Und dann wich sie vor ihm zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Mir ist so seltsam«, flüsterte sie.
Nein, nein – war es tatsächlich schon zu spät?
Ihre halbgeschlossenen Augen nahmen die Form an, die er ihnen auf seiner Zeichnung gegeben hatte. Sie näherte sich ihm wieder, beide Hände auf die Brust gelegt, die Lippen erwartungsvoll geöffnet. »Vielleicht halten Sie mich jetzt für verrückt, aber ich könnte schwören, das alles schon einmal erlebt zu haben.«
Es war zu spät. Er blickte auf. Ihn schauderte, denn er spürte, wie die Finsternis sich über sie beide herabsenkte. Hastig legte er ein letztes und einziges Mal die Arme um sie, umarmte sie so fest, wie er das seit Wochen ersehnt hatte.
Sobald ihre Lippen sich auf seine legten, waren sie beide machtlos. Der honigsüße Geschmack ihres Mundes verwirrte und betäubte ihn. Je stärker sie ihren Körper gegen seinen presste, desto heftiger wogte die Erregung und breitete sich gleichzeitig eine Lähmung in ihm aus. Ihre Zunge berührte seine Zunge, und das Feuer zwischen ihnen brannte mit jeder neuen Geste, jeder neuen Berührung heller, heißer und mächtiger. Doch das alles war ihm schon vertraut und bekannt.
Der Raum erbebte. Um sie herum erglühte ein heller Schein.
Sie bemerkte nichts davon, nahm nichts wahr, wusste nichts, spürte nichts als den Kuss.
Die Schatten wirbelten jetzt direkt über ihren Köpfen. So nahe, dass er mit der Hand danach hätte greifen können. So nahe, dass er sich fragte, ob sie wohl verstand, was sie flüsterten. Die Finsternis legte sich langsam über ihr Gesicht. Er bemerkte ihr Erstaunen, sah in ihren Augen plötzlich die Erkenntnis aufblitzen.
Dann war nichts mehr. Nichts.
Eins
Vollkommen Fremde
Zehn Minuten zu spät. Luce stürzte in die neonweiß beleuchtete Eingangshalle der Sword & Cross Schule. Ein Schrank von einem Menschen, mit kurzen Haaren, rotem Gesicht und einem Klemmbrett, das unter den mächtigen Bizeps geschoben war, erteilte Befehle – was bedeutete, dass ihre Abwesenheit schon aufgefallen war.
»Und denkt immer daran! Hier an unserer Schule gilt: Pillen, Zellen, Rotlicht!«, bellte eine raue Stimme drei Schüler an, die mit dem Rücken zu Luce standen. »Haltet euch an die Regeln und niemandem passiert was.«
Luce schlüpfte schnell hinter die kleine Gruppe. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Stapel Anmeldeformulare auch wirklich richtig ausgefüllt hatte; ob die kahl rasierte Person vor ihr eigentlich ein Mann oder eine Frau war; ob irgendwer ihr mit der schweren, großen Reisetasche helfen würde; ob ihre Eltern, die sie hierhergebracht hatten, ihr heiß geliebtes Auto, ihren Plymouth Fury, nicht sofort verkaufen würden, sobald sie wieder zu Hause waren. Sie hatten bereits den ganzen Sommer lang damit gedroht und jetzt verfügten sie über einen weiteren Grund, gegen den Luce nicht mehr ankam: An Luces neuer Schule war es nämlich nicht erlaubt, ein Auto zu haben. Ohne Ausnahme. Vielleicht sollte man ergänzen, dass es sich bei ihrer neuen Schule um eine sogenannte Besserungsanstalt handelte.
Luce hatte sich an die Bezeichnung immer noch nicht gewöhnt.
»Könnten Sie, ähm, könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?«, fragte sie. »Wie war das mit dem Medcenter -?«
»Na, was hat der Wind denn da zu uns hereingeblasen?«, sagte die Person mit dem kahl rasierten Schädel. Um dann langsam und deutlich fortzufahren: »Medcenter. Wenn du eine der Schülerinnen bist, die regelmäßig Medikamente nehmen, dann kriegst du dort, was du brauchst, um dich aufzumuntern, ruhiger zu werden, deine Atembeschwerden zu lindern, was auch immer.« Eine Frau, entschied Luce. Kein Mann würde es fertigbringen, das alles gleichzeitig so böse und so zuckersüß zu sagen.
»Ich hab’s kapiert.« Luce drehte sich fast der Magen um. »Medcenter.«
Sie nahm jetzt schon seit Jahren keine Medikamente mehr. Nach dem Vorfall im vergangenen Sommer hatte Dr. Sanford, ihr Spezialist in Hopkinton – und der Grund, weshalb ihre Eltern sie bis nach New Hampshire in ein Internat geschickt hatten -,sie wieder auf Tabletten setzen wollen. Sie hatte ihn schließlich davon überzeugen können, dass ihr Zustand stabil war, doch es hatte sie einen ganzen Monat Therapiestunden gekostet, nur um die schrecklichen Antipsychotika nicht nehmen zu müssen.
Deshalb begann sie nun ihr letztes Jahr an der Highschool einen ganzen Monat, nachdem das Schuljahr angefangen hatte. Ihr Schuljahr in der Besserungsanstalt. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, neu an eine Schule zu kommen. Es hatte Luce richtig nervös gemacht, dass sie nun in Kurse kommen würde, wo alle anderen sich bereits kannten. Aber wie es so aussah, war sie nicht die einzige Neue, die an diesem Morgen angekommen war.
Sie warf einen verstohlenen Blick zu den drei anderen Jugendlichen. In ihrer alten Schule, der Dover Prep, hatte sie bei ihrer Erkundungstour am ersten Tag gleich ihre beste Freundin Callie kennengelernt. Alle anderen Schüler waren seit ihrer Kindheit miteinander aufgewachsen, was schon ausgereicht hätte, um Luce und Callie zusammenzuschweißen. Aber sie entdeckten auch schnell, dass sie dieselbe Leidenschaft für dieselben alten Filme teilten – vor allem solche mit Albert Finney wie »Zwei auf gleichem Weg«. Nachdem sie dann auch noch entdeckt hatten, dass keine von ihnen beiden Popcorn zubereiten konnte, ohne Feueralarm auszulösen, waren sie unzertrennlich gewesen. So lange bis … so lange, bis sie sich trennen mussten.
Neben Luce standen zwei Jungen und ein Mädchen. Mit dem Mädchen war es ziemlich einfach, sie war blond und auf die Weise hübsch, wie Mädchen in Werbespots für Handcreme hübsch sind, mit pastellrosa Nagellack, der zu ihrem Haarband passte.
»Ich bin Gabbe«, flüsterte sie und schenkte Luce ein strahlendes Lächeln, das ebenso schnell wieder verschwand, wie es aufgetaucht war. Luce hatte noch nicht einmal Zeit, ihren eigenen Namen zu sagen. Das mangelnde Interesse des Mädchens erinnerte sie an viele Mädchen in Dover, nur in der Südstaatenvariante. In der Sword & Cross hätte sie das allerdings nicht erwartet. Luce konnte genauso wenig entscheiden, ob sie das eher beruhigend oder beunruhigend finden sollte, wie sie sich vorstellen konnte, was ein solches Mädchen in einer Besserungsanstalt zu suchen hatte.
Rechts neben Luce war ein Junge mit kurzen braunen Haaren, braunen Augen und ein paar Sommersprossen auf der Nase. Er vermied es, ihrem Blick zu begegnen, und zupfte nervös an dem Nagelhäutchen seines Daumens herum, was Luce vermuten ließ, dass er genauso wie sie immer noch ganz geschockt war, hier zu sein, und sich am liebsten verkrochen hätte.
Der Junge links neben ihr passte dagegen nur zu gut zu dem Bild, das sie sich von diesem Ort gemacht hatte. Fast zu perfekt. Er war groß und mager, hatte eine DJ-Tasche über der Schulter hängen, unordentliche schwarze Haare und große, tief liegende grüne Augen. Für seine geschwungenen rosenroten Lippen hätten die meisten Mädchen wahrscheinlich einen Mord begangen. An seinem Nacken war über dem Halsausschnitt seines schwarzen T-Shirts ein schwarzes Tattoo zu erkennen, eine aufgehende Sonne, deren Strahlen auf seiner blassen Haut leuchteten.
Anders als die beiden anderen erwiderte der Junge ihren Blick, als er sich zu ihr umdrehte, und schaute nicht gleich wieder weg. Seine Lippen zeigten nicht das kleinste Lächeln, aber seine Augen waren warm und lebendig. Er sah sie ruhig an und stand dabei reglos wie eine Statue da, weshalb Luce sich plötzlich mit dem Boden wie verwurzelt fühlte. Sie hielt einen Moment den Atem an. Der Blick aus diesen Augen war intensiv und verlockend und, ja, auch entwaffnend.
Mit einem lauten Räuspern unterbrach die Frau ihren tranceähnlichen Zustand. Luce errötete und fuhr sich nervös über den Kopf, als müsse sie sich dringend kratzen.
»Diejenigen von euch, die die erste Lektion begriffen haben, können jetzt gehen, nachdem sie ihre Waffen hier abgeliefert haben.« Die Frau deutete auf eine große Pappschachtel, über der ein Schild mit der Aufschrift VERBOTENE GEGENSTÄNDE hing. »Und wenn ich sage, sie können jetzt gehen, Todd -«, sie umklammerte die Schulter des sommersprossigen Jungen mit einem so harten Griff, dass er zusammenzuckte, »- dann meine ich damit, ihr könnt jetzt gehen, um hier in der Schule eure persönlichen Betreuer zu treffen. Keinesfalls dürft ihr das Gelände verlassen. Du -«, sie zeigte auf Luce, »- gibst deine Waffen ab und bleibst danach bei mir.«
Alle vier trotteten zur Pappschachtel und Luce beobachtete verdutzt, was die anderen drei Jugendlichen alles aus ihren Taschen leerten. Das Mädchen zog ein dickes Schweizer Armeemesser hervor. Der Junge mit den grünen Augen trennte sich widerwillig von einer Farbspraydose und einem Cuttermesser. Sogar der unglückliche Todd ließ mehrere Streichholzschachteln und einen kleinen Behälter mit Feuerzeugbenzin in den Karton fallen. Luce schämte sich fast schon, dass sie selbst keine Waffe bei sich trug – aber als sie dann sah, dass die anderen auch noch ihre Handys hervorholten und in die Schachtel legten, musste sie schwer schlucken.
Sie beugte sich vor, um auf dem Schild mit der Aufschrift VERBOTENE GEGENSTÄNDE auch das Kleingedruckte zu lesen, und stellte fest, dass Handys, Pager sowie Funkgeräte aller Art streng verboten waren. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass sie kein Auto haben durfte! Luce umklammerte mit schwitzender Hand das Handy in ihrer Hosentasche, ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Als die Frau ihren Gesichtsausdruck bemerkte, gab sie ihr schnell ein paar Klapse auf die Wangen. »Werd mir nicht ohnmächtig, Mädchen. Sie zahlen mir hier nicht genug, als dass Wiederbelebungsversuche auch drin wären. Außerdem darfst du dich einmal in der Woche auf dem Apparat in der Eingangshalle anrufen lassen.«
Ein … ein Mal in der Woche? Aber –
Sie blickte ein letztes Mal auf ihr Handy und bemerkte, dass sie zwei neue Nachrichten erhalten hatte. Unmöglich konnten das ihre letzten beiden SMS sein! Die erste kam von Callie.
Ruf mich sofort an! Werde die ganze Nacht für dich aufbleiben, also bereite dich schon mal auf einen langen Tratsch vor. Und denk immer an das Mantra, das ich für dich ausgesucht habe. Du wirst überleben! Ach ja, hier haben übrigens fast alle schon ganz vergessen, was du …
Typisch Callie! Sie hatte wieder mal so viel geschrieben, dass Luces bescheuertes Handy die Nachricht nach vier Zeilen einfach abgeschnitten hatte. Aber Luce fühlte sich auch erleichtert. Sie wollte gar nicht lesen, was fast alle an ihrer Schule inzwischen vergessen hatten … was ihr zugestoßen war … was sie getan hatte, um an diesen schlimmen Ort verbannt zu werden.
Sie seufzte und öffnete die zweite Nachricht. Sie war von ihrer Mutter, die erst vor ein paar Wochen ihre Leidenschaft fürs SMS-Schreiben