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Ein Lied für meine Tochter - Teil 2

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Geringste aus. Ich verspüre ja selbst ständig den Wunsch, über das Kind in meinem Bauch zu streichen, diesen unwiderlegbaren Beweis, dass es diesmal endlich klappen wird.

»Es ist ein Junge«, verkündet Mim.

Ich bin fest davon überzeugt, dass ich ein Mädchen unter dem Herzen trage. Ich träume in Pink, und wenn ich aufwache, denke ich an Märchen. »Wir werden sehen«, erwidere ich.

Ich habe es schon immer als Ironie des Schicksals empfunden, dass eine Frau, die Schwierigkeiten hat, schwanger zu werden, eine In-vitro-Fertilisation mit der Einnahme von Antibabypillen beginnt. Das dient dazu, aus einem unregelmäßigen einen regelmäßigen Zyklus zu machen, um sich anschließend von einer wahren Flut von Medikamenten überrollen zu lassen: Max hat mir drei Ampullen FSH und hMG – Follistim und Repronex – jeweils zweimal am Tag injiziert, ein Mann, der früher schon beim Anblick einer Nadel in Ohnmacht gefallen ist und der mir inzwischen, nach fünf Jahren, mit der einen Hand eine Spritze gibt, während er sich mit der anderen eine Tasse Kaffee einschenkt. Sechs Tage nach Beginn der Injektionen wurden meine Eierstöcke mittels eines intravaginalen Ultraschalls gemessen, und der Estradiol-Spiegel in meinem Blut wurde bestimmt. Dann folgte Antagon, ein neues Medikament, das dazu dient, die Eizellen im Eierstock zurückzuhalten, bis sie reif sind. Drei Tage später folgten dann ein weiterer Ultraschall und noch eine Blutprobe. Die Follistim- und Repronexdosen wurden zurückgefahren – ich bekam nur noch morgens und abends je eine Ampulle –, und schließlich ging es zwei Tage später noch einmal zum Ultraschall und zur Blutabnahme.

Einer meiner Follikel maß einundzwanzig Millimeter, einer zwanzig Millimeter und einer neunzehn Millimeter.

Um exakt 20.30 Uhr injizierte mir Max zehntausend Einheiten hCG, und genau sechsunddreißig Stunden später wurden mir die Eizellen entnommen.

Dann wurden die Eizellen mittels intrazytoplasmatischer Spermieninjektion befruchtet, kurz ICSI genannt. Drei Tage später hielt Max meine Hand, während wir auf einem Computermonitor zuschauten, wie der Embryo mit einem Vaginalkatheder in die Gebärmutter gepflanzt wurde. Die Gebärmutterwand sah aus wie Seegras in der Strömung. Dann schoss ein weißer Funke, ein kleiner Stern, aus der Nadel und fiel zwischen zwei Gräser. Und zur Feier der potenziellen Schwangerschaft bekam ich einen Schuss Progesteron in den Hintern.

Wenn man sich dann vorstellt, dass einige Menschen nur Liebe machen müssen, um ein Baby zu bekommen …

Meine Mutter sitzt am Computer, als ich in ihr Haus komme, und ergänzt ihr kürzlich angelegtes Facebook-Profil. DARA WEEKS, besagt ihr Status, WÜNSCHT SICH, IHRE TOCHTER WÜRDE IHRE FREUNDIN SEIN WOLLEN. »Ich rede nicht mit dir«, verkündet sie schnippisch, »aber dein Mann hat angerufen.«

»Max?«

»Hast du noch einen anderen?«

»Was wollte er denn?«

Sie zuckt mit den Schultern. Ohne weiter auf sie zu achten, gehe ich zum Telefon in der Küche und wähle Max’ Handynummer. »Warum ist dein Handy nicht an?«, will Max wissen, kaum dass er abgehoben hat.

»Ja, Liebling«, erwidere ich, »ich liebe dich auch.«

Im Hintergrund höre ich einen Rasenmäher. Max hat eine Landschaftsgärtnerei. Im Sommer ist er mit Rasenmähen beschäftigt, im Herbst mit Laubfegen und im Winter mit Schneeräumen. Und was machst du in der Schlammsaison?, habe ich ihn bei unserer ersten Verabredung gefragt.

Mich im Dreck rumwälzen, hat er geantwortet und gelächelt.

»Ich habe gehört, dass du verletzt worden bist«, sagt er.

»Peinliche Nachrichten verbreiten sich schnell. Wer hat dich überhaupt angerufen?«

»Ich denke nur … Ich meine, wir haben so hart dafür gearbeitet, dass wir jetzt da sind, wo wir sind.« Max stolpert über die Worte, aber ich weiß, was er mir damit sagen will.

»Du hast doch gehört, was Dr. Gelman gesagt hat«, entgegne ich. »Wir sind auf der Zielgeraden.«

Es ist schon irgendwie komisch, dass nach all den Jahren des Versuchens ausgerechnet ich diejenige bin, die jetzt so entspannt ist, und nicht Max. Es gab Zeiten, da war ich so abergläubisch, dass ich von zwanzig rückwärts gezählt habe, bevor ich aus dem Bett gestiegen bin, oder ich habe eine Woche lang ein Glücksmieder getragen, um sicherzustellen, dass ein bestimmter Embryo sich auch wirklich einnisten würde. Aber so weit wie jetzt habe ich es noch nie geschafft. Meine Knöchel sind wunderbar geschwollen, mir tun alle Knochen weh, und ich kann meine Zehen in der Dusche nicht mehr sehen. Ich war noch nie so schwanger, dass irgendjemand eine Babyparty für mich hätte planen können.

»Ich weiß, dass wir das Geld brauchen, Zoe, aber wenn deine Patienten derart gewalttätig sind …«

»Max. Mr. Docker ist neunundneunzig Prozent der Zeit katatonisch, und meine Brandopfer liegen für gewöhnlich im Koma. Ehrlich, das war nur Zufall. Mir könnte genauso gut etwas zustoßen, wenn ich die Straße überquere.«

»Dann überquere keine Straßen«, sagt Max. »Wann kommst du nach Hause?«

Ich bin sicher, er weiß von der Babyparty, aber ich spiele mit. »Ich muss mir noch einen neuen Patienten ansehen«, scherze ich. »Mike Tyson.«

»Sehr lustig. Schau mal, wir können jetzt nicht sprechen …«

»Du hast mich angerufen.«

»Aber nur, weil ich gedacht habe, du hättest eine Dummheit …«

»Max«, falle ich ihm ins Wort. »Lassen wir das. Lassen wir das einfach.« Jahrelang haben Paare mit Kindern Max und mir erzählt, wie viel Glück wir hätten, dass wir in unserer Beziehung den Luxus genießen könnten, dass alles sich nur um uns dreht und dass wir uns nicht ständig darüber den Kopf zerbrechen müssten, wer das Abendessen kocht und wer die Kleinen zur Kindertagesstätte fährt. Doch jegliche Romantik verfliegt schnell, wenn sich das Gespräch beim Abendessen nur um Estradiol-Spiegel und Termine in der Klinik dreht. Es ist nicht so, als würde Max irgendetwas falsch machen. Er massiert mir die Füße und versichert mir immer wieder, wie schön ich doch sei, obwohl ich schrecklich aufgequollen bin. Doch wenn ich mich in letzter Zeit an ihn schmiege, dann habe ich das Gefühl, als käme ich nicht mehr nahe genug an ihn heran. Es ist, als wäre er irgendwo anders. Immer wieder sage ich mir, ich bilde mir das nur ein. Bei ihm sind es die Nerven und bei mir die Hormone. Ich wünschte nur, ich müsste mir nicht ständig Entschuldigungen ausdenken.

Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir, ich hätte eine Freundin, der ich mich anvertrauen kann. Jemanden, der einfach nur nickt und all die richtigen Dinge sagt, wenn ich mich über meinen Mann beschwere. Doch all meine Freundschaften haben sich in Wohlgefallen aufgelöst, nachdem Max und ich unser ganzes Leben dem Kampf gegen die Unfruchtbarkeit gewidmet hatten. Einige Kontakte habe ich von mir aus beendet, weil ich meine Freundinnen einfach nicht mehr über die ersten Worte ihres Babys reden hören wollte oder darüber, wie es ist, wenn man nach Hause kommt und überall Stofftiere und Matchboxautos liegen – Details einer Art zu leben, die ich nie kennengelernt habe. Andere Freundschaften hatten sich einfach in Nichts aufgelöst, denn Max war inzwischen der einzige Mensch, der Verständnis dafür hatte, was es hieß, sich einer künstlichen Befruchtung zu unterziehen. Wir hatten uns selbst isoliert, weil wir das einzige Paar in unserem Freundeskreis waren, das noch keine Kinder hatte. Wir hatten uns selbst isoliert, weil es sonst zu sehr schmerzte.

Max legt auf. Meine Mutter hat jedes einzelne Wort verfolgt. »Ist zwischen euch alles okay?«, fragt sie.

»Ich dachte, du wärest wütend auf mich.«

»Bin ich auch.«

»Weshalb hast du dann gelauscht?«

»Es ist kein Lauschen, wenn du mit meinem Apparat in meiner Küche telefonierst. Was ist denn los mit Max?«

»Nichts.« Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

Meine Mutter setzt einen besorgten Gesichtsausdruck auf. »Setzen wir uns mal, und betrachten wir dieses Gefühl gemeinsam.«

Ich rolle mit den Augen. »Funktioniert das bei deinen Kunden wirklich?«

»Du wärst überrascht. Die meisten Menschen kennen die Antworten auf ihre Probleme nämlich bereits. Man muss sie ihnen nur entlocken.«

Im Laufe der letzten vier Monate hat meine Mutter sich neu erfunden. Jetzt ist sie die Eigentümerin und einzige Angestellte der Mama-weiß-es-besser-Lebensberatung. Dieser Beruf ist die direkte Fortsetzung ihrer früheren Inkarnationen als Reiki-Trainerin, Stand-up-Comedian und – während eines besonders unangenehmen Sommers in meiner Pubertät – Handelsvertreterin für ihre eigene Erfindung, dem von ihr so getauften ›Bananensack‹, einer pinkfarbenen Neoprenhülle, die man über die Frucht stülpt, damit sie nicht so schnell braun wird. Unglücklicherweise hatten die Kunden diese Innovation der Frischhaltekultur allzu oft als Sexspielzeug betrachtet. Im Vergleich dazu war ihr Dasein als Lebensberaterin geradezu harmlos.

»Als ich mit dir schwanger war«, sagt meine Mutter, »haben dein Vater und ich uns so oft gestritten, dass ich ihn eines Tages sogar verlassen habe.«

Ich starre sie an. Wie ist es möglich, dass ich in den vierzig Jahren meines Lebens nie davon gehört habe? »Ernsthaft?«

Sie nickt. »Ich habe meine Sachen gepackt, ihm gesagt, dass ich ihn verlassen würde, und bin gegangen.«

»Und wohin?«

»Bis zum Ende unserer Einfahrt«, antwortet meine Mutter. »Ich war im neunten Monat. Weiter konnte ich nicht watscheln, ohne das Gefühl zu haben, dass meine Gebärmutter gleich rausfällt.«

Ich zucke unwillkürlich zusammen. »Musst du das so plastisch beschreiben?«

»Wie soll ich es denn sonst beschreiben, Zoe? Fötenwohnzimmer?«

»Und was ist dann passiert?«

»Die Sonne ging unter, und dein Vater kam heraus, um mir eine Jacke zu bringen. Wir haben ein paar Minuten dagesessen, und schließlich sind wir wieder reingegangen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Und dann bist du geboren worden, und über was auch immer wir uns gestritten haben, es zählte nicht mehr. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Die Vergangenheit ist nur ein Sprungbrett für die Zukunft.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Hast du wieder am Glasreiniger geschnüffelt?«

»Nein, das ist mein neues Motto. Schau mal.« Die Finger meiner Mutter fliegen über die Tastatur. Der beste Rat, den sie mir je gegeben hat, war der, einen Schreibmaschinenkurs zu machen. Dabei hatte ich mich wie wild dagegen gewehrt. Der Kurs fand im Voc-Tech-Flügel meiner Highschool statt, und von den anderen Kids war keines in meinen Kursen für Hochbegabte. Diese Kinder rauchten vor der Schule, trugen viel zu dick Make-up auf und hörten Heavy Metal. Willst du über andere urteilen oder tippen lernen?, hatte meine Mutter mich gefragt. Zu guter Letzt war ich eines von drei Mädchen, die eine blaue Schleife von der Lehrerin bekamen, weil sie fünfundsiebzig Worte in der Minute tippen konnten. Heutzutage tippe ich natürlich nicht mehr auf einer Schreibmaschine, sondern auf einer Computertastatur, doch jedes Mal, wenn ich einen Patientenbericht schreibe, danke ich meiner Mutter stumm dafür, dass sie sich damals durchgesetzt hat.

Meine Mutter ruft ihre Facebook-Seite auf, und unter einem Bild von ihr steht tatsächlich dieser kitschige Spruch. »Hättest du meine Freundschaftsanfrage angenommen, wüsstest du, dass das mein neues Motto ist.«

»Willst du mir jetzt wirklich einen Vorwurf daraus machen, dass ich mich nicht an die Facebook-Etikette gehalten habe?«, frage ich.

»Ich weiß nur, dass ich dich neun Monate lang unter dem Herzen getragen habe. Ich habe dich gefüttert, dich gekleidet und deine Collegeausbildung bezahlt. Da darf man als Gegenleistung ja wohl einen simplen Klick bei Facebook erwarten.«

»Du bist meine Mutter. Du musst nicht meine Freundin sein.«

Sie deutet auf meinen Bauch. »Hoffentlich bricht sie dir genauso das Herz wie du mir.«

»Wieso bist du überhaupt bei Facebook?«

»Weil das gut fürs Geschäft ist.«

Meine Mutter hat drei Kunden, von denen ich weiß, und keinen von ihnen scheint es zu stören, dass meine Mutter weder eine akademische noch sonst eine Ausbildung hat, die sie als Motivationstrainerin qualifizieren würde. Bei der einen Kundin handelt es sich um eine Hausfrau und Mutter, die gerne wieder ins Arbeitsleben zurückkehren würde, jedoch über keine anderen Qualifikationen verfügt als Sandwichschmieren und das korrekte Trennen von Koch- und Buntwäsche. Der zweite Kunde ist ein sechsundzwanzigjähriger Kerl, der vor Kurzem seine leibliche Mutter gefunden, aber Angst hat, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Und der Letzte ist ein ehemaliger Alkoholiker, der es einfach schön findet, sich regelmäßig mit jemandem zu treffen. Das vermittelt ihm ein Gefühl von Stabilität in seinem Leben.

»Eine Lebensberaterin muss immer auf dem Laufenden sein. Sie muss hip sein«, verkündet meine Mutter.

»Als du hip warst, hat es das Wort ›hip‹ noch gar nicht gegeben. Weißt du, was ich glaube, worum es hier geht? Letzten Sonntag haben wir ja diesen Film im Kino gesehen …«

»Der hat mir nicht gefallen. Im Buch war das Ende besser.«

»Nein, das meine ich nicht. Das Mädchen am Kartenschalter hat dich gefragt, ob du eine Seniorenermäßigung haben willst, und du hast den ganzen Abend keinen Ton mehr gesagt.«

Sie steht auf. »Verdammt noch mal, sehe ich etwa wie eine Seniorin aus? Ich färbe mir das Haar mit religiösem Eifer. Ich habe eine Epiliermaschine, und ich gucke längst nicht mehr Brian Williams, sondern Jon Stewart.«

Das muss ich ihr lassen: Sie sieht wirklich deutlich besser aus als die meisten anderen Mütter von Leuten in meinem Alter, die ich kenne. Sie hat das gleiche glatte braune Haar und die gleichen grünen Augen wie ich. Und sie hat diesen flippigen, vielseitigen Stil, der einen unwillkürlich zweimal hinschauen lässt, und man fragt sich, ob sie ihr Outfit wirklich sorgfältig zusammengestellt oder einfach nur in den Tiefen ihres Schranks gekramt hat. »Mom«, sage ich, »du bist die jüngste Fünfundsechzigjährige, die ich kenne. Du brauchst kein Facebook, um das zu beweisen.«

Es erstaunt mich, dass jemand – irgendjemand – meine Mutter dafür bezahlt, ihn zu beraten. Ich meine, schließlich versuche ich als ihre Tochter genau dem zu entgehen. Aber meine Mutter ist sich sicher, dass ihre Kunden es schätzen, dass auch sie einen großen Verlust verarbeiten musste. Das verleihe ihr Glaubwürdigkeit, sagt sie. Die große Mehrheit der Lebensberater seien doch auch nichts weiter als gute Zuhörer, die vielleicht einem Zauderer einen Tritt in den Hintern geben könnten, sonst nichts. Und mal ganz ehrlich, wer hätte genau dafür schon bessere Voraussetzungen als eine Mutter.

Ich schaue meiner Mutter über die Schulter. »Glaubst du nicht, dass du mich auf deiner Seite erwähnen solltest?«, frage ich. »Wenn ich schon deine Hauptqualifikation für den Job bin?«

»Stell dir doch nur einmal vor, wie lächerlich es wäre, deinen Namen zu nennen, ohne dass es einen Link zu deinem Profil gibt. Aber«, sie seufzt, »so einen Link kann man ja nur erstellen, wenn der Betreffende eine Freundschaftsanfrage auch annimmt …«

»Oh, um Himmels willen.« Ich beuge mich vor und tippe zwischen den Fingern meiner Mutter hindurch und drücke das Baby gegen ihren Rücken. Ich logge mich in mein Profil ein. Im Livefeed laufen die Gedanken und Berichte von Leuten, mit denen ich auf die Highschool gegangen bin, von anderen Musiktherapeuten und von ehemaligen Professoren. Unter anderem schreibt dort Darci, meine Zimmergenossin auf dem College, mit der ich schon seit Monaten nicht gesprochen habe. Ich sollte sie mal anrufen, denke ich bei mir, obwohl ich weiß, dass ich das nicht tun werde. Sie hat Zwillinge, die gerade in den Vorschulkindergarten gekommen sind. Ihre lächelnden Gesichter zieren ihr Profil.

Ich nehme die Freundschaftsanfrage meiner Mutter an, auch wenn sich das wie ein neuer Tiefpunkt im Social Networking anfühlt. »So«, sage ich. »Bist du jetzt glücklich?«

»Sehr. So weiß ich wenigstens, dass ich die neuesten Bilder von meinem Enkelkind zu sehen bekomme, wenn ich mich einlogge.«

»Anstatt die eine Meile zu meinem Haus zu fahren, um sie dir persönlich anzusehen?«

»Hier geht es ums Prinzip, Zoe«, erklärt meine Mutter. »Ich bin nur froh, dass du endlich von deinem hohen Ross heruntergekommen bist.«

»Keine Pferde«, sage ich. »Ich bin einfach nicht in der Stimmung für einen Streit vor meiner Babyparty.«

Meine Mutter öffnet den Mund, um etwas darauf zu erwidern, macht ihn aber wieder zu. Eine halbe Sekunde lang denkt sie darüber nach, die Fassade aufrechtzuerhalten, doch sie gibt rasch auf. »Wer hat dir davon erzählt?«

»Offenbar habe ich in der Schwangerschaft so eine Art siebten Sinn entwickelt«, erwidere ich.

Meine Mutter denkt darüber nach. Sie ist beeindruckt. »Wirklich?«

Ich gehe in ihre Küche, um den Kühlschrank zu plündern, und finde drei Portionen Hummus, einen Beutel Karotten und verschiedene undefinierbare Klumpen in Tupperdosen. »Manchmal wache ich morgens auf und weiß einfach, dass Max Cap’n Crunch zum Frühstück haben will. Oder ich höre das Telefon klingeln und weiß, noch bevor ich abhebe, dass du das bist.«

»Als ich mit dir schwanger war, habe ich voraussagen können, ob es regnet oder nicht«, sagt meine Mutter. »Und meine Vorhersagen waren genauer als die des Wettermanns auf ABC.«

Ich stecke meinen Finger in den Hummus. »Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hat das ganze Schlafzimmer wie eine Auberginen-Parmagiana gerochen … du weißt schon … wie die guten, die es bei Bolonisi gibt.«

»Dort findet auch die Babyparty statt!« Erstaunt schnappt meine Mutter nach Luft. »Wann hat das angefangen?«

»Ungefähr zu der Zeit, als ich eine Quittung vom Copy Shop für die Einladungen in Max’ Jackentasche gefunden habe.«

Meine Mutter braucht einen Augenblick, dann muss sie lachen. »Und ich hatte schon die Kreuzfahrt geplant, die ich von dem Lottogewinn buchen wollte, weil du mir die Zahlen nennen konntest.«

»Tut mir leid, dass ich dich so enttäuschen muss.«

Meine Mutter streicht mir mit der Hand über den Bauch. »Zoe«, sagt sie, »selbst wenn du wolltest, könntest du mich nicht enttäuschen.«

Einige Hirnforscher glauben, die menschliche Reaktion auf Musik beweise, dass wir mehr sind als nur Fleisch und Blut, dass wir eine Seele haben. Dabei argumentieren sie wie folgt:

Sämtliche Reaktionen auf externe Stimuli lassen sich auf evolutionäre Grundprinzipien zurückführen. So zieht man instinktiv die Hand vor Feuer zurück, um physischen Schaden zu vermeiden, und vor einer wichtigen Rede dreht sich einem der Magen um, weil Adrenalin durch die Adern schießt und eine physiologische Fluchtreaktion hervorruft. Aber die Art, wie die Menschen auf Musik reagieren, ergibt im evolutionären Kontext keinen Sinn. Das Stampfen im Takt, das Verlangen mitzusingen oder aufzuspringen und zu tanzen, all das ist für das Überleben absolut unnötig. Aus diesem Grund betrachten viele Wissenschaftler unsere Reaktion auf Musik als Beweis dafür, dass wir in unserem Verhalten eben nicht nur von biologisch-physiologischen Prozessen bestimmt sind. Denn wenn die Seele berührt wird, setzt das vor allem voraus, dass man auch eine Seele hat.

Es finden Spiele statt: Schätze Zoes Bauchumfang, lustiges Handtaschenraten (da wäre ja sicher auch niemand drauf gekommen, dass meine Mutter eine unbezahlte Stromrechnung mit sich herumschleppt …), ein Babysockenmemory und zu guter Letzt ein ganz besonders ekeliges Spiel. In Windeln wird geschmolzene Schokolade herumgereicht, und die Gäste müssen erraten, um welche Marke es sich handelt.

Obwohl ich eigentlich nicht auf solche Sachen stehe, mache ich alles mit. Meine Teilzeitbuchhalterin, Alexa, hat das alles organisiert und sich auch die Mühe gemacht, die Gäste aufzutreiben: meine Mutter, meine Cousine Isobel, Wanda aus dem Shady-Acres-Pflegeheim, eine Krankenschwester von der Station für Verbrennungen, auf der ich arbeite, und eine Schulpsychologin namens Vanessa, die mich Anfang des Jahres kontaktiert hat, damit ich einen zutiefst autistischen Neuntklässler musiktherapeutisch behandele.

Es ist irgendwie deprimierend, dass diese Frauen, die man bestenfalls als Bekannte bezeichnen kann, jetzt als meine besten Freundinnen

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