Die Bestimmung - Die Bestimmung 01 - Seite 2
mich zu und fletscht die weißen Zähne. Er stößt ein tiefes, bedrohliches Knurren aus, und da wird mir klar, wozu der Käse gut gewesen wäre. Oder das Messer. Aber jetzt ist es zu spät.
Ich überlege, ob ich weglaufen soll. Zwecklos, der Hund ist garantiert schneller als ich. Das Tier niederzuringen, brauche ich erst gar nicht zu versuchen. Mein Kopf dröhnt. Ich muss eine Entscheidung treffen. Wenn ich über einen Tisch springe und ihn dann wie einen Schild vor mich halte … Nein, ich bin zu klein, um über die Tische zu springen, und ich bin auch nicht stark genug, um einen davon umzuwerfen.
Der Hund knurrt, und ich spüre, wie mein Kopf davon vibriert.
In meinem Biologiebuch steht, dass Hunde Angst riechen können, weil die menschlichen Drüsen unter Stress den gleichen Stoff absondern wie Beutetiere. Und wenn Hunde Angst riechen, greifen sie an.
Der Hund kommt langsam näher, seine Krallen scharren auf dem Fußboden.
Ich kann weder weglaufen noch kämpfen. Ich rieche den stinkenden Atem des Hundes und versuche, nicht daran zu denken, was er wohl gerade gefressen haben mag. In seinen Augen ist nichts Weißes, nur ein schwarzes Funkeln.
Was weiß ich sonst noch über Hunde? Man sollte ihnen nicht in die Augen schauen, das verstehen sie als Akt der Feindseligkeit. Als Kind habe ich meinen Vater angebettelt, mir einen Hund zu schenken, aber jetzt, wo ich auf die Pfoten starre, weiß ich nicht mehr, warum. Der Hund kommt knurrend näher. Wenn es ein feindseliges Verhalten ist, ihm in die Augen zu schauen, was ist dann ein Zeichen der Unterwerfung?
Mein Atem geht keuchend, aber gleichmäßig. Es graut mir davor, mich vor dem Hund auf den Boden zu legen – dann ist mein Gesicht auf gleicher Höhe mit seinen fletschenden Zähnen –, aber es ist das einzig Vernünftige. Also strecke ich mich lang aus und stütze mich auf die Ellenbogen. Der Hund kommt näher, ich spüre seinen warmen Atem in meinem Gesicht. Meine Arme fangen an zu zittern.
Er bellt in mein Ohr, und ich beiße die Zähne zusammen, damit ich nicht losschreie.
Etwas Raues, Nasses berührt meine Wange. Der Hund hat zu knurren aufgehört, und als ich den Kopf hebe und ihn anblicke, hechelt er. Er hat mir übers Gesicht geleckt! Verblüfft richte ich mich auf und kauere mich auf die Fersen. Der Hund stellt seine Vorderpfoten auf meine Knie und schlabbert an meinem Kinn. Zuerst zucke ich zurück, doch dann wische ich die Spucke ab und lache. »So eine gefährliche Bestie bist du ja gar nicht, was?«
Langsam stehe ich wieder auf, um den Hund nicht zu erschrecken, aber das Tier scheint wie verwandelt. Ich strecke die Hand nach ihm aus, vorsichtig, damit ich sie notfalls schnell wieder zurückziehen kann. Der Hund stupst sie mit der Schnauze an. Ich bin froh, dass ich das Messer nicht genommen habe.
Ich muss blinzeln, und als ich die Augen wieder öffne, steht ein weiß gekleidetes kleines Mädchen vor mir. Es breitet die Arme aus und ruft: »Hündchen!«
Das Kind läuft auf den Hund zu. Ich will die Kleine warnen, aber es ist schon zu spät. Der Hund macht einen Satz und dreht sich um. Er knurrt nicht mehr, sondern bellt und fletscht die Zähne und schnappt. Seine Muskeln sind bis zum Äußersten gespannt, gleich wird er losspringen. Ohne lange nachzudenken, werfe ich mich auf den Hund und klammere mich an seinen Hals …
Ich schlage mit dem Kopf auf dem Boden auf. Der Hund ist verschwunden, ebenso das kleine Mädchen. Ich bin allein – in einem völlig leeren Prüfungszimmer. Langsam stehe ich auf und drehe mich im Kreis. In keinem der Spiegel kann ich mich sehen. Ich stoße die Tür auf und gehe auf den Flur, aber der Flur ist nicht mehr der Flur – es ist jetzt ein Autobus, und alle Plätze sind besetzt.
Ich stehe im Mittelgang und halte mich an einer Stange fest. Neben mir sitzt ein Mann mit einer Zeitung. Sein Gesicht hinter der Zeitung kann ich nicht sehen, wohl aber seine Hände. Sie sind vernarbt, es scheinen Brandwunden zu sein, und er umklammert das Papier, als würde er es am liebsten zerknüllen.
»Kennst du diesen Kerl?«, fragt er mich plötzlich. Er tippt auf das Bild auf dem Titelblatt. Die Schlagzeile lautet: »Brutaler Mörder endlich gefasst!«
Ich starre auf das Wort »Mörder«. Es ist schon sehr lange her, seit ich dieses Wort irgendwo gelesen habe, und allein vom Hinschauen gruselt es mich.
Das Bild unter der Überschrift zeigt einen jungen Mann mit Bart und unauffälligen Gesichtszügen. Mir kommt es vor, als würde ich ihn kennen, ich weiß nur nicht, woher. Aber irgendwie bin ich mir sicher, dass es keine gute Idee wäre, dies dem Mann mitzuteilen.
»Also?«, blafft er mich an. »Kennst du ihn?«
Keine gute Idee – nein, ganz und gar keine gute Idee. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich klammere mich an der Stange fest, damit meine zitternden Hände mich nicht verraten. Wenn ich dem Fremden sage, dass ich den Mann aus der Zeitung kenne, wird mir etwas Entsetzliches zustoßen, das weiß ich. Ich muss ihn davon überzeugen, dass ich den Kerl nicht kenne. Ich könnte mich räuspern und mit den Schultern zucken – aber das wäre so gut wie gelogen.
Ich räuspere mich.
»Kennst du ihn?«, wiederholt der Fremde.
Ich zucke mit den Schultern und gebe keine Antwort.
»Ja oder nein?«
Ich kriege eine Gänsehaut, dabei ist meine Angst völlig unbegründet. Das hier ist nur ein Test, keine Wirklichkeit. »Keine Ahnung«, sage ich möglichst wegwerfend. »Woher soll ich wissen, wer das ist?«
Der Fremde steht auf und endlich sehe ich auch sein Gesicht. Er trägt eine dunkle Sonnenbrille, sein Mund ist verzerrt und seine Wangen sind genauso schlimm vernarbt wie seine Hände. Er beugt sich zu mir. Sein Atem riecht nach Zigarettenrauch. Es ist nur ein Test, rufe ich mir ins Gedächtnis. Nur ein Test.
»Du lügst«, sagt er. »Du lügst!«
»Tue ich nicht.«
»Deine Augen verraten dich.«
Ich straffe meinen Körper. »Tun sie nicht.«
»Wenn du ihn kennst«, sagt er leise, »dann könntest du mich retten. Du könntest mich retten!«
Ich kneife die Augen zusammen. »Tja«, sage ich entschlossen. »Ich kenne ihn aber nicht.«
3. Kapitel
Ich wache auf. Meine Hände sind feucht und ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich liege auf dem Stuhl in dem Zimmer mit den Spiegeln. Als ich mich zur Seite drehe, sehe ich Tori hinter mir. Mit zusammengepressten Lippen entfernt sie die Elektroden von meinem Kopf. Ich warte darauf, dass sie etwas über den Test sagt – dass er jetzt vorbei ist, dass ich mich gut geschlagen habe, wie sollte man das auch nicht, es war ja alles nur Einbildung –, aber sie sagt kein Wort, sondern nimmt stumm die Kabel weg.
Nervös setze ich mich auf und wische die Hände an meiner Hose ab. Ich muss etwas falsch gemacht haben. Hat Tori deshalb diesen seltsamen Blick – weil sie nicht weiß, wie sie mir beibringen soll, dass ich eine Niete bin? Ich wünschte, sie würde irgendetwas sagen.
»Das war wirklich erstaunlich«, sagt sie schließlich. »Entschuldige mich einen Moment, ich bin gleich wieder da.«
Erstaunlich?
Ich ziehe die Knie hoch und presse mein Gesicht dagegen. Am liebsten würde ich weinen, Tränen wären jetzt eine echte Erleichterung, aber ich kann nicht. Wie kann man in einer Prüfung versagen, auf die man sich nicht einmal vorbereiten darf?
Je mehr Zeit verstreicht, desto unruhiger werde ich. Alle paar Augenblicke muss ich mir die schweißnassen Hände abwischen – aber vielleicht tue ich das auch nur, um mich zu beruhigen. Und wenn sie mir nun sagt, dass ich für keine der Fraktionen infrage komme? Dann muss ich auf der Straße leben, bei den Fraktionslosen. Das schaffe ich nicht. Fraktionslos zu sein bedeutet nicht nur, ein Leben in Armut und Elend zu führen, es bedeutet auch ein Leben abseits der Gesellschaft, ohne das Wichtigste im Leben: die Gemeinschaft mit anderen.
Meine Mutter hat es mir genau erklärt. Wir können nicht alleine überleben, und selbst wenn wir es könnten, wir würden es nicht wollen. Ohne eine Fraktion hat unser Leben keinen Sinn und Zweck.
Energisch schüttle ich den Kopf. An so etwas darf ich nicht denken! Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren.
Endlich öffnet sich die Tür und Tori kommt zurück. Nervös umklammere ich die Stuhllehne.
»Es tut mir leid, falls dich das, was ich dir jetzt sage, erschreckt«, fängt sie an und stellt sich neben mich, die Hände in die Taschen vergraben. Sie ist blass und wirkt angespannt.
»Beatrice, deine Ergebnisse waren nicht eindeutig«, verkündet sie. »Normalerweise kann man bei jeder Testphase eine oder mehrere Fraktionen ausschließen, aber bei dir war das lediglich bei zweien der Fall.«
»Nur zwei?«, frage ich verdattert. Meine Kehle ist so eng, dass ich kaum sprechen kann.
»Wenn du einen spontanen Widerwillen gegen das Messer gezeigt und stattdessen den Käse gewählt hättest, dann hätte dich die Simulation in ein anderes Szenario geführt, das deine Eignung für Amite unter Beweis gestellt hätte. Aber das ist nicht geschehen, weswegen diese Fraktion für dich nicht infrage kommt.« Sie hält inne und reibt sich nachdenklich den Nacken. »Für gewöhnlich verläuft die Simulation eindeutig, am Schluss bleibt eine Fraktion übrig, alle anderen scheiden nacheinander aus. Aber dein Verhalten ließ es nicht zu, auch nur eine der übrigen Fraktionen auszuschließen. Deshalb musste ich die Simulation verändern und dich in den Bus setzen. Erst da hat deine hartnäckige Unehrlichkeit Candor ausgeschlossen.« Sie zieht eine Grimasse. »Keine Sorge, in dieser Situation sagt wirklich nur ein Candor die Wahrheit.«
Ein Zentnerstein fällt mir vom Herzen. Vielleicht bin ich doch keine Niete.
»Genau genommen stimmt das nicht ganz«, korrigiert sie sich. »Kandidaten, die in dieser Situation die Wahrheit sagen, gehören zu Candor … oder Altruan. Und genau das ist das Problem.«
Ich starre sie mit offenem Mund an und versuche zu verstehen, was sie sagt.
»Einerseits hast du dich lieber auf den Hund geworfen, als mit anzusehen, wie er das kleine Mädchen attackiert, was typisch ist für eine Altruan. Andererseits hast du dich standhaft geweigert, dem Mann im Bus die Wahrheit zu sagen, selbst als er dir erklärt hat, dass die Wahrheit ihn retten könnte. Das ist überhaupt kein selbstloses Verhalten.« Sie seufzt. »Dass du nicht vor dem Hund davongelaufen bist, deutet auf Ferox hin, aber auch das Messer ist ein Zeichen der Ferox, und das wolltest du partout nicht nehmen.«
Sie räuspert sich, dann fährt sie fort. »Dein kluges Verhalten dem Hund gegenüber zeigt eine Neigung zu Ken. Ich weiß nicht, wie ich deine Weigerung, dich zu entscheiden, im ersten Prüfungsabschnitt bewerten soll, aber …«
»Moment mal«, falle ich ihr ins Wort. »Heißt das, es ist unklar, für welche Fraktion ich mich eigne?«
»Ja und nein«, antwortet Tori. »Ich schließe daraus, dass du gleichermaßen für Altruan, Ferox und Ken infrage kommst. Leute mit einem solchen Ergebnis nennt man …«, sie späht über die Schulter, als fürchte sie, jemand könnte uns belauschen, »man nennt sie … Unbestimmte.« Tori spricht das letzte Wort so leise aus, dass ich es fast nicht höre, und da ist auch wieder dieser angespannte, besorgte Gesichtsausdruck. Sie geht um den Stuhl herum und beugt sich ganz dicht zu mir.
»Beatrice«, wispert sie, »du darfst unter keinen Umständen mit jemandem darüber sprechen. Das ist sehr wichtig, hörst du?«
Ich nicke. »Ja, ich weiß. Wir dürfen unsere Testergebnisse nicht ausplaudern.«
»Nein.« Tori hat sich vor den Stuhl gekniet und die Arme auf die Lehnen gelegt. Unsere Gesichter berühren sich fast. »Du verstehst mich nicht. Ich meine nicht, dass du sie vorerst für dich behalten sollst. Du darfst niemals mit jemandem darüber sprechen, niemals, egal, was passiert. Eine Unbestimmte zu sein, ist äußerst gefährlich. Verstehst du?«
Ich verstehe nichts – was bitte ist an Testergebnissen gefährlich, die nicht ganz eindeutig sind? –, aber ich nicke trotzdem. Ich hatte ohnehin nicht vor, mit jemandem darüber zu sprechen.
»Okay.« Ich lasse die Armlehnen los und stehe auf. Meine Beine fühlen sich so wacklig an, dass ich umgeknickt wäre, wenn Tori mich nicht gestützt hätte.
»Ich werde deine Testergebnisse manuell in das System eingeben und dich offiziell als Altruan deklarieren. Ich schlage vor, du gehst jetzt nach Hause«, sagt Tori. »Du musst jetzt viel nachdenken, und da tut es dir sicher nicht gut, noch länger zusammen mit den anderen zu warten.«
»Ich muss meinem Bruder Bescheid sagen.«
»Keine Sorge, das übernehme ich.«
Ratlos reibe ich mir die Stirn. Beim Hinausgehen starre ich stur vor mich hin. Ich ertrage es nicht, Tori in die Augen zu sehen. Ich ertrage es nicht, an die Zeremonie der Bestimmung zu denken, die schon morgen stattfinden wird.
Jetzt muss ich ganz allein entscheiden, ganz unabhängig von dem, was der Test besagt.
Altruan. Ferox. Ken.
Eine Unbestimmte.
Ich beschließe, nicht mit dem Bus zu fahren. Wenn ich früher als sonst nach Hause komme, merkt es mein Vater, wenn er am Abend das Hausprotokoll liest, und dann wird er eine Erklärung von mir verlangen. Also gehe ich lieber zu Fuß. Ich muss Caleb abpassen, ehe er unseren Eltern etwas erzählt. Zum Glück ist Caleb verschwiegen.
Ich laufe mitten auf der Straße, denn manchmal fahren die Busse haarscharf über die Bordsteinkante, deshalb ist es so sicherer. In der Nähe unseres Hauses sind noch an einigen Stellen Farbreste zu sehen, wo früher die gelben Mittelstreifen waren. Mittlerweile sind sie überflüssig, weil es nur noch so wenige Autos gibt. Wir brauchen auch keine Ampeln, aber manche baumeln immer noch windschief über der Straße und sehen aus, als wollten sie jeden Moment runterfallen.
Der Wiederaufbau geht langsam voran, die Stadt besteht aus einem Flickenteppich von neuen, gepflegten Häusern und alten, verrottenden Gebäuden. Die meisten der neueren Häuser stehen entlang des Sumpflands, das vor langer Zeit einmal ein See war. Die Stadterneuerungsbehörde der Altruan, bei der meine Mutter arbeitet, ist für den Großteil der Aufbauarbeiten verantwortlich.
Wenn ich von außen das Leben der Altruan betrachte, finde ich es wunderschön. Wenn ich sehe, welche Harmonie in meiner Familie herrscht. Wenn ich sehe, wie alle, die woanders zum Essen eingeladen sind, ungefragt beim Geschirrspülen helfen. Wenn ich sehe, wie Caleb Fremden hilft, ihre Einkäufe zu tragen. Ich könnte mich immer wieder neu in dieses Leben verlieben. Doch wenn ich mich selbst so verhalten soll, gelingt es mir nicht. Ich fühle mich nie so, als käme mein Verhalten von ganzem Herzen.
Aber wenn ich eine andere Fraktion wähle, dann muss ich meine Familie verlassen. Und zwar für immer.
Das Stadtviertel der Altruan grenzt an das Gebiet mit Bauruinen und verfallenen Gehsteigen, durch das ich nun laufe. An manchen Stellen ist die Straße eingesunken, darunter kommen die Abwasserkanäle und die verlassenen U-Bahn-Schächte zum Vorschein. Diese Stellen sind gefährlich. Manchmal stinkt es so entsetzlich nach Abwasser und Unrat, dass ich mir die Nase zuhalten muss.
Hier wohnen alle, die zu keiner Fraktion gehören. Weil sie die Initiation bei der von ihnen gewählten Fraktion nicht bestanden haben, leben sie in Armut und verrichten die Arbeiten, die niemand sonst verrichten will. Sie sind Hausmeister, Bauarbeiter und Müllmänner; sie schuften, fahren Züge, lenken Busse. Ihre Arbeit wird mit Kleidung und Essen entlohnt. Und trotzdem hätten sie von beidem zu wenig, behauptet meine Mutter.
An einer Ecke steht einer dieser bedauernswerten Fraktionslosen. Seine braune Kleidung ist schäbig und er hat eingefallene Wangen. Er starrt mich an und ich starre zurück. Ich kann nicht wegsehen.
»Entschuldige«, spricht er mich an. Seine Stimme ist rau. »Hast du etwas Essbares für mich?«
Ich spüre einen Kloß im Hals und eine innere Stimme ermahnt mich: Zieh den Kopf ein und geh weiter.
Nein, denke ich kopfschüttelnd. Es ist nicht richtig, sich vor diesem Mann zu fürchten. Er braucht Hilfe, und die sollte ich ihm gewähren.
»Ähm … ja«, murmle ich und greife in meine Tasche. Mein Vater hat gesagt, ich solle für Gelegenheiten wie diese immer etwas zu essen bei mir haben. Ich gebe dem Mann einen kleinen Beutel mit getrockneten Apfelschnitzen.
Er greift danach, aber statt den Beutel zu nehmen, umklammert er mein Handgelenk. Er lächelt mich an. Zwischen seinen Schneidezähnen klafft eine Lücke.
»Na, du hast aber schöne Augen«, sagt er. »Schade, dass du sonst so unscheinbar bist.«
Mein Herz klopft wie verrückt. Ich will meine Hand wegziehen, aber er hält mich nur umso fester. Sein Atem riecht unangenehm faulig.
»Du bist ein bisschen zu jung, um ganz allein durch die Gegend zu streifen, Kleine«, sagt er.
Ich höre auf zu ziehen und stelle mich kerzengerade hin. Ich weiß, dass ich jünger wirke, daran braucht er mich nicht zu erinnern. »Ich bin älter, als ich aussehe«, erkläre ich. »Ich bin sechzehn.«
Er reißt den Mund auf und ein grauer Backenzahn mit einem dunklen Fleck an der Seite wird sichtbar. Ist das ein Lächeln oder schneidet er eine Grimasse? »Dann ist heute ein besonderer Tag für dich, was? Der Tag, bevor du dich entscheidest?«
»Lassen Sie mich los«, sage ich. In meinen Ohren summt es. Meine Stimme klingt entschlossen und streng – ganz anders, als ich es erwartet hätte. Fast so, als wäre es nicht meine eigene.
Ich bin bereit. Ich weiß, was ich tun werde. Ich stelle mir vor, wie ich ihm mit dem Ellbogen einen Stoß versetze. Ich sehe den Beutel mit den Apfelschnitzen zu Boden fallen, höre schon meine Schritte, als ich davonrenne. Ich bin bereit zu handeln.
Doch da lässt er meine Hand los, nimmt die Äpfel und sagt: »Wähle klug, kleines Mädchen.«
4. Kapitel
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich fünf Minuten früher als üblich in unsere Straße einbiege. Die Uhr ist der einzige Schmuck, den die Altruan tragen dürfen, und das auch nur, weil sie etwas Praktisches ist. Meine hat ein graues Armband und der Uhrendeckel ist aus Glas. Wenn ich sie im richtigen Winkel halte, sehe ich über dem Ziffernblatt mein Spiegelbild.
Die Häuser in unserer Straße sehen alle gleich aus. Sie sind aus grauem Zement und haben nur wenige Fenster, sie sind schlicht, praktisch, unaufdringlich. In den Vorgärten wächst Hirse, die schmucklosen Briefkästen bestehen aus Metall. Manchen mag das trist vorkommen, aber auf mich wirkt diese Einfachheit beruhigend.
Es ist ja nicht so, dass wir etwas Besonderes nicht zu schätzen wüssten, wie die anderen Fraktionen manchmal behaupten. Alles – unsere Häuser, unsere Kleider, die Art, wie wir unsere Haare tragen – soll uns helfen, uns selbst zu vergessen und uns vor Eitelkeit, Gier und Neid zu bewahren, alles drei Spielarten der Selbstsucht. Wenn wir wenig haben und wenig wollen, dann sind wir alle gleich und müssen niemanden beneiden.
Ich gebe mir redlich Mühe, genau so zu sein.
Zu Hause setze ich mich auf die Vordertreppe und warte auf Caleb. Es dauert nicht lange. Nach kaum einer Minute sehe ich grau gekleidete Gestalten die Straße entlangkommen. Ich höre sie lachen. In der Schule versuchen wir, keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber sobald wir zu Hause sind, fangen wir an zu scherzen und zu necken. Was nicht heißt, dass mein Hang zum Sarkasmus gerne gesehen wird. Sarkasmus richtet sich immer gegen andere. Vermutlich ist es also wirklich besser, dass meine Fraktion mich dazu anhält, meine Zunge im Zaum zu halten. Ja, vielleicht muss ich meine Familie gar nicht verlassen. Wenn ich mich richtig anstrenge, selbstlos zu sein, vielleicht werde ich es dann auch.
»Beatrice!«, ruft Caleb. »Was ist passiert? Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Mir geht’s gut.« Er ist mit Susan und ihrem Bruder Robert gekommen. Susan