Der Mensch ist verschieden - Dreiunddreißig Charaktere - Kapitel 6
dir nämlich einen Hund schenken.“ Bei diesem Gespräch konnte er der Dame näher kommen, und es war seiner Erfahrung nach abzusehen, dass sich etwas ergab. Was sich ergab, war, dass der Bub nichts lieber tat, als dem Mann zuzuhören. Zu dritt spazierten sie in den Wald, und der Bub hielt die Hand des Mannes und war eifersüchtig auf seine Mutter. Ihm fiel nicht auf, dass er benutzt wurde. Am Abend schickte ihn die Mutter früh ins Bett, und sie blieb im Aufenthaltsraum und wartete. Der Mann zog alle Register, um der Frau zu imponieren, was ihm gelang. Fragte der Bub, wann er denn seinen Hund bekomme, vertröstete ihn sein großer Freund auf den Tag der Abreise.
Die Mutter änderte ihr Verhalten, sie flirtete jetzt ganz offen mit dem Mann, und der Bub kam sich übrig vor.
„Was für eine Farbe hat es denn, das Hündchen?“, fragte er seinen großen Freund. „Gleich werde ich ihm Kunststücke beibringen.“
An einem Wochentag reiste eine Frau an, sie kam allein, der Portier erzählte dem Mann, was er über sie wusste. Sie war ein heller Typ und auch jünger als die Dame mit dem Buben. Da verlegte der Mann sein Interesse auf diese Neuerscheinung und ging der Dame aus dem Weg. Ihr Sohn wurde fiebrig und bekam eine Lungenentzündung. Die beiden wurden mit der Sanität abgeholt.
20 Der Gottkenner
Kenntnis von Gott ist entweder eine Gnade oder eine Lüge.
Der Gottkenner aber erzählt vom blauen Schleier der Muttergottes. Er liebt es, stumme Dinge zur Sprache zu bringen. Es kann vorkommen, dass er sündigt. Um sich zu bestrafen, bricht er Rosen mit bloßen Händen, beißt die Blüten ab und windet sich aus den Stängeln eine Dornenkrone. Wenn Blut und Schweiß getrocknet sind, wird er wieder sein wie unschuldig Ding.
Er blickt hinaus in die Dunkelheit, die schwer ist wie Samt. Er spuckt auf das Blut an seinen Händen. Dann wischt er die Hände am Küchenvorhang ab. Nichts zu essen, ist seine zweite Buße.
Roswitha ruft an: „Was machst du gerade?“
„Ich sitze in der Küche“, sagt er.
„Hast du eine Idee, wie man den Krieg beenden könnte?“, fragt sie. „Du hast immer ein Rezept.“
„Wozu brauchst du so eine Idee?“, fragt er.
„Eine Zeitung macht eine Umfrage. Schon zum zweiten Mal. Ich habe eine halbe Stunde Zeit, mir ein Statement zu überlegen, drei Zeilen, maximal fünfhundert Zeichen. Aber mir fällt nichts ein. Jetzt sind es nur noch knapp zwei Minuten.“
„Man soll den Kriegsparteien Geld geben“, sagt er.
„Dann kaufen sie doch nur Waffen“, sagt sie. „Das ist keine gute Idee, das wirklich nicht.“
„Noch mehr Geld“, sagt er. „Nur wenn das Geld knapp ist, kauft man Waffen. Das lehrt die Geschichte. Denk immer anders, als die anderen denken, Roswitha! Waffen werden nicht gekauft, um sich zu verteidigen, sie werden gekauft, um anzugreifen. Wer nichts hat, greift an.“
„Aber“, sagt Roswitha, „die Frage ist doch: Wen greift er an. Wer nichts hat, greift den an, der etwas hat. Und wenn der, der etwas hat, keine Waffen hat, um das, was er hat, zu verteidigen, dann hat er bald nichts mehr.“
„Denk immer anders als die anderen! Das ist das Rezept, Roswitha“, sagt der Gottkenner. „Was lehrt uns die Geschichte? Die Armen greifen die Armen an. Das lehrt sie. Die Reichen verteidigen ihren Reichtum mit Geld. Darum sage ich: Gebt den kriegführenden Parteien Geld, Geld, Geld!“
„Oh“, sagte Roswitha, oh! So einfach, so wahr! Puh! Das war Rettung in letzter Minute. Danke!“
Nachdem er gefastet und gebetet hat, fühlt sich der Gottkenner rein wie Quellwasser. Er erhitzt Milch, weicht Schokolade darin auf und bessert mit geschlagenem Rahm und Vanillesirup nach.
21 Der-im-Spiegel
Der Spiegel an sich ist ohne Rätsel, sein Bild aber ist die Gewalt einer aufgebrochenen Frage.
Der-im-Spiegel fühlte wie einer, der vor dem Erschießungskommando weggelaufen war und sich nun schämte. Schloss er die Augen und dachte über sein Antlitz nach, dann glaubte er sich schön. Öffnete er aber die Augen und betrachtete die Nase, die Augenbrauen, das Kinn lachend, das Kinn ernst, den Haaransatz über der Stirn, den Gesamtausdruck erst im Zustand des Lieblichen, dann des Erstaunten, dann des Betroffenen, dann des Abweisenden, und betrachtete er dies von allen Seiten, im Hellen und Düsteren, so hielt er sich selbst für unannehmbar, ja für todeswürdig.
„Wer kann den da lieben?“, fragte er laut in den Spiegel hinein, und Der-im-Spiegel äffte lautlos zurück.
An die Stelle des Spiegels wollte er ein Landschaftsbild hängen, eine Reproduktion hinter Glas. Zusätzliche Löcher waren in die Wand zu bohren.
In der Werkzeugabteilung des Kaufhauses fragte er das Mädchen: „Was halten Sie von einem echten italienischen Zitronenlikör oben im Café? Wird zurzeit angeboten. Wir beide? Das ist die Frage.“
Flink zog sie ihren blauen Arbeitskittel aus und erklärte sich zu allem bereit.
22 Die Kraftlos-Begabte
Begabung ohne Kraft ist wenigstens ein kleines bisschen. Kraft ohne Begabung hingegen ist nichts.
Die kraftlos Begabte sitzt an ihrem Arbeitsplatz, und folgt einem Einfall nicht gleich ein nächster, schiebt sie ihr Arbeitsgerät zur Seite und wechselt zu einer unmusischen Tätigkeit über.
Die kraftlos Begabte, darauf angesprochen, warum sie Angefangenes nicht fortführe, antwortet, „heute müssen unbedingt die Kleider ausgelüftet werden, einen so günstigen Tag wie den heutigen wird es für diese Tätigkeit lange nicht mehr geben.“
Die kraftlos Begabte ist oft außerstande, den Pinsel zu halten. Er fällt ihr aus der Hand. Er fällt auf die Leinwand: Impression am Nachmittag.
Die kraftlos Begabte liegt auf der Couch und starrt zur Decke. Das Kopfweh kommt wie bestellt und hämmert an die Schläfen.
Es ist einzusehen, dass die kraftlos Begabte heute nicht über ihre Kräfte beansprucht werden darf.
Wenigstens auf einen Beweis für ihre Begabung kann die kraftlos Begabte hinweisen: Impression am Nachmittag.
23 Die Extreme
Unter Extremsein werden Haltung und Handlung verstanden, die aus einer hoffnungslosen Hoffnung resultieren, die nur an das Hundertprozentige glaubt und nur an eine Zukunft; eine Hoffnung, die das, was ist, per se als unvollkommen, das, was ohnehin kommen wird, per se als unbefriedigend, das, was erreicht werden will, per se als unerreichbar und schließlich das, was bereits erreicht wurde, weil es etwas Eigenes ist, als per se Minderwertiges betrachtet. Extreme Ziele werden also sehr schnell aufgegeben – entweder weil sie als unerreichbar oder aber weil sie als erreichbar erkannt werden.
Die Extreme schnellt von einer Seite zur anderen und befindet sich nie im Ruhezustand.
Die Extreme tupft sich den Schweiß von der Stirn und zittert bei mildem Wetter, weil ihr kalt ist.
Schaut die Extreme für eine Sekunde auf ihr hektisches Leben, beschließt sie, von nun an zu meditieren und den Wald nicht mehr zu verlassen. Durchaus nimmt sie sich als Ziel vor, eine Einsiedlerin zu werden, deren Herzschlag auf dreißig Schläge in der Minute reduziert ist. Sie rechnet die Nahrung auf Nüsse, Beeren, Kräuter und altes Brot herunter. Ihre Küche ist ihr Wald. Sie sagt sich, das gilt. Ich werde, nimmt sie sich vor, das Haus nie mehr durch die Haustür verlassen oder betreten. Sie hat davon gehört, dass Einsiedler am Beginn ihrer Karriere meist einen Schwur leisten. Sie hat gehört, dass es gar nicht so wichtig sei, was der Schwur beinhalte; es könne sich durchaus um einen Unsinn handeln. Einmal habe ein Einsiedler gelebt, der habe sich geschworen, nie wieder im Leben das Wort zum Beispiel zu gebrauchen. Es gebe nicht den geringsten Grund, nicht ab und zu zum Beispiel zu sagen, der Schwur sei also unsinnig, dennoch habe es erst dieser Schwur dem Einsiedler möglich gemacht, so lange Zeit sein Einsiedlerleben zu führen. Immer, hieß es, sei so ein Schwur negativ. Immer fange er an mit: Ich werde nicht. Nie fange er an mit: Ich werde.
Beim Meditieren überfällt die Extreme eine längst überwunden geglaubte Sucht. Sie steigt aus dem Küchenfenster, schleicht sich davon, als wäre sie zwei – die eine schleicht, die andere darf es nicht merken –, kauft sich zwei Flaschen Martini und trinkt einen Liter im dunklen Kartoffelkeller, der inzwischen als Gerümpelkeller dient. Nun ist sie betrunken und sieht Dinge, die sie im nüchternen Zustand übersehen hätte. Zum Beispiel ihr Fahrrädchen aus Kindertagen, ganz zuunterst steckt es, verrostet ist es, kaum kann man die blaue Farbe noch erkennen, die Fahrradkette ist mit einem klebrigen Pelz aus Schmer und Staub überzogen. Sie hatte geglaubt, sie habe das Fahrrädchen vor vierzig Jahren an der Straßenecke stehen lassen und trotz der Ermahnungen ihrer Mutter nicht geholt. Dann war es auf einmal nicht mehr da gewesen. Die Mutter hatte gesagt: „Das ist weg, weg für immer.“ Nun sieht sie: Die Mutter hat sie belogen. Und sie hasst ihre Mutter. Zugleich aber denkt sie: Hätte sie mich nicht angelogen, hätte ich diese wunderbare Sehnsucht nach meinem Fahrrädchen nicht gehabt, vierzig Jahre lang, so oft war sie durch diese Sehnsucht getröstet. Und sie liebt ihre Mutter dafür, dass sie gelogen hat.
Sät die Extreme aus, nimmt sie zu viele Samen in die Hand, so dass nichts gedeiht.
Besitzt die Extreme eine Familie und findet sie aus heiterem Himmel ihren Haushalt verwahrlost, so beginnt sie den Tag damit, wie wild zu kochen. Sie kocht bis in die Nacht hinein, friert ein, weckt ein, pökelt und ruht erst, wenn sie von ihrem Mann oder von ihren Kindern gelobt wird.
Schaut die Extreme auf ihr jüngstes Kind, und es rührt sie herzzerreißend, drückt sie es so fest, dass es schreit und nach Luft schnappt. Dann denkt die Extreme: Ich hätte nie ein Kind haben sollen!
24 Der Zaunzieher
Das Zaunziehen soll die Vermischungsfreude der Natur hemmen. Denn diese führt dazu, dass nichts auf dieser Welt für sich leben und für sich sterben kann. Das Zaunziehen ist also keine Nachahmung einer natürlichen Vorlage, wie die Kleidung eine Nachahmung der Haut ist und die Mütze eine Nachahmung der Haare und