Der Mensch ist verschieden - Dreiunddreißig Charaktere - Kapitel 5
nach einer neuen Arbeitsstelle. Er gehörte der A-Klasse an, war Akademiker, aber trotzdem konnte er keine Arbeit finden. Meine Mutter sagte, er schlage alles aus, weil keiner ihn so gut bezahle und die Pension verlässlich sei. Wem sollte ich glauben? Er hat seine Arbeitsstelle nie gewechselt. Er ging zu den Weihnachts- und Geburtstagsfeiern, kam betrunken zurück, und wenn man fragte, wie es gewesen sei, nickte er nur. Nach der Pensionierung schlug er alle Einladungen seiner ehemaligen Kollegen aus, traf er einen auf der Straße, tat er so, als sehe er ihn nicht.
Ich wusste nie, was mein Vater über mich dachte. Nie lobte er mich. Einmal sah ich ihn am Küchentisch vor einer Flasche Wodka sitzen.“
Die in Freiheit leben, sehnen sich oft nach Unterwerfung. Die sich unterworfen haben, nie nach der Freiheit. Warum das so ist, darüber sollte ein kluges Buch geschrieben werden.
17 Die Eingebildet-Vergessliche
Eingebildete Vergesslichkeit ist eine Schleife, die sich durch das Hirn zieht und immer dieselben Fragen stellt und immer dieselben Antworten gibt, was dazu führen kann, dass einer verrückt wird – außer er lässt diese Schleife zu einem Ritual, zu einem Automatismus auswachsen, was ein weitgehend unauffälliges Leben ermöglicht.
Die Eingebildet-Vergessliche aber ist eine Frau, die doppelt und dreifach den Platz begutachtet, den zu verlassen sie gerade im Begriff ist. Ist sie im Begriff, aus dem Haus zu gehen, kontrolliert sie dreimal das Elektrische, steht am Herd und sagt zu jedem Schalter und zeigt mit dem Finger darauf und sagt laut: „Der da – aus. Der da – aus. Der da – aus.“ Wiederholt drückt sie auf die Türklinke, um zu prüfen, ob die Tür auch tatsächlich abgeschlossen ist. Während der Zugfahrt öffnet sie in Abständen ihre Aktenmappe und fasst den Haustürschlüssel fest an.
Immer bin ich im Begriff, dieses oder jenes zu tun, sagt sie im Stillen vor sich her. Jetzt zum Beispiel bin ich im Begriff, über den Ausdruck im Begriff sein nachzudenken. Sie sagt sich, wer im Begriff ist, etwas zu tun, kann noch zurück, über den ist die Zeit noch nicht hinweg. Wer hingegen etwas tut, hat es im nächsten Augenblick getan, und wenn etwas erst einmal getan ist, lässt es sich nicht mehr rückgängig machen. Etwas vergessen ist zwar nicht das Gleiche wie etwas tun, kann aber im Resultat ähnlich sein. Deshalb fällt es der Eingebildet-Vergesslichen schwer, zwischen Das muss ich noch tun und Das habe ich vergessen zu unterscheiden. Wenn ich etwas vergessen habe, sagt sie sich, dann muss ich noch etwas tun. Wenn ich am Samstag vergessen habe, für den Sonntag einzukaufen, dann muss ich mich am Sonntag auf andere als die gewohnte Art ernähren.
Die Eingebildet-Vergessliche weiß, dass ihr Denken nicht konsequent ist. Inkonsequenz, sagt sie sich, ist ein Areal der Freiheit. Richtiges Denken zu jeder Zeit und an jedem Ort nimmt der Wirklichkeit jede Möglichkeit.
Die Eingebildet-Vergessliche weiß, dass sie über ihre eingebildete Vergesslichkeit nicht nachdenken sollte. Sobald sie nachdenkt, zerstört sie das Ritual, den Automatismus, den sie sich aufgebaut hat, um nichts zu vergessen. Deshalb nimmt sie immer nur einen Gegenstand mit, wenn sie das Haus verlässt – entweder ihre Aktenmappe oder den Schirm oder ein Buch oder ein Geschenk. Wenn sie zwei Dinge mitnimmt, ist der Automatismus unterbrochen, der besagt: Du hast immer nur ein Ding bei dir. Das zweite Ding wird also vergessen oder verloren – es wird aus dem Ritual verstoßen. Wenn sie aber doch zwei Dinge mitnehmen will oder muss und sich vorher sagt, wenn ich mit festen Gedanken die Macht des Rituals breche und die Gewissheit des Automatismus wettmache, werde ich nichts vergessen und nichts verlieren – dann vergisst und verliert sie tatsächlich nichts, weder den Schirm noch die Aktenmappe, noch das Buch, noch das Geschenk; aber sie vergisst zu Hause das Elektrische zu kontrollieren, und es besteht die Gefahr, dass in ihrer Abwesenheit ein Brand ausbricht.
18 Der Immerzu-Dankbare
Immerzu-Dankbarsein ist eine Existenzform, die dem bereits abgehandelten Magenleiden ähnlich ist und tatsächlich oft eine Vorstufe zu demselben darstellt. Immerzu-Dankbarsein ist die Einsicht des Heiligen, dass das Leben ein Geschenk ist, ohne allerdings dabei zu bedenken, dass nicht nur der blanke Mensch, sondern der Mensch mit seiner Rachsucht, seinen Zörnen, seiner Ungerechtigkeit, seiner Häme, seinem eigennützigen Glückswahn ein Teil eben dieses Lebens ist, das, aus dieser Perspektive betrachtet, sich als ein Fluch darstellt.
Der Immerzu-Dankbare steht auf der Wiese, dankt dem Gras für seinen Saft und den Bäumen für die grünen Blätter und ihr Rascheln im Wind; dem Himmel dankt er für die Bläue und die Höhe, den Wolken für ihre Formen. Dass in der Wiese die Blumen stehen, dass die Mücken in der Luft schwirren und die Hummel sich in Blütenkelche setzt und saugt, dafür dankt er und gleichzeitig findet er dafür nicht die richtigen Worte. Er dankt dem Schöpfer, dass es den Schöpfer gibt, und nie bäte er um etwas, nie. Er entschuldigt sich sogar, wenn er von seinen Rechten Gebrauch macht, berichtet Nicolás Gómez Dávila und nennt ihn wohlerzogen.
Insgeheim hofft der Immerzu-Dankbare freilich, seine Bescheidenheit komme im richtigen Moment vor den richtigen Leuten zur Sprache. Kaum hat ihn dieser Gedanke berührt, verdammt er sich auch schon und beginnt von Neuem, seine Dankbarkeit aufzubauen.
Dankbarkeit, so definiert er sie, hat nicht nur keinen Nutzen zu bringen, sie soll sogar ein der Ökonomie ungünstiges Klima schaffen.
Dem Immerzu-Dankbaren kam sogar schon der Gedanke, der Dom zu Köln sei nichts anderes als Stein gewordene Dankbarkeit. Und wie lange, bitte, wurde am Kölner Dom gebaut!
Wird der Immerzu-Dankbare öffentlich ungerecht behandelt, wird er etwa einer üblen Sache beschuldigt, an der er nicht beteiligt ist, so rechnet er seinem Kontrahenten ein Plus an, weil er ihm Gelegenheit gab, sich öffentlich beim Herrn im Himmel für die Prüfung zu bedanken, die er im folgenden Prozess bestehen wird. Und er wird.
Eines Tages trifft der Immerzu-Dankbare gegen Mittag mit dem Zug in Köln ein. Er geht durch die Bahnhofshalle, tritt auf den Vorplatz, und vor ihm wächst der Dom in den Himmel, ein schwarzer Gesell, dessen Turmspitzen in die Wolken stießen. Damit hatte er nicht gerechnet. Nie hatte ihm einer erzählt, dass in Köln Hauptbahnhof und Dom sich einen Platz teilen. Er steht nahe bei den Taxis und sinnt nach. Erst findet er es empörend, dass Gott und Eisenbahn so eng aneinandergerückt wurden. Dann aber reift in ihm eine gütige Empfindung: Er verzeiht dem Erbauer des Bahnhofs, ja, er ist ihm sogar dankbar. Gibt es, fragt er sich, ein schöneres Emblem für die Verbundenheit von Diesseits und Jenseits, und antwortet sich selbst: Nein.
19 Der die Frauen sammelt
Frauen zu sammeln wird vom Sammler gleichgesetzt mit: Erfahrungen zu sammeln. Er sagt sich: Der Mensch ist auf der Welt, um die Welt zu erfahren. Zu welchem anderen Zweck wurden ihm die Sinnesorgane mitgegeben? Man muss hören und registrieren, was gehört wurde; man muss sehen und registrieren, was gesehen wurde – und so weiter durch alle Sinne hindurch. Nun gibt es Menschen, sagt sich der Frauensammler, die beziehen ihre Erfahrungen aus der Beobachtung von Schmetterlingen und Wolken oder der Rockmusik und Hausmannskost oder frischen Lindenblüten und dem Glattstreichen frischgebügelter Wäsche. Solche Erfahrungssammelei wirkt bisweilen exzentrisch, ist auf die Dauer aber ziemlich fad und letztlich inhuman. Denn, so argumentiert er seine Weltanschauung zu Ende, wir sind Menschen und als Menschen soziale Wesen, und wir sind Wesen, denen wenig Zeit gegeben ist, so dass wir uns nicht verzetteln sollten, weswegen es ratsam ist, allen unseren Sinnesorganen über einen einzigen Gegenstand Erfahrungen zukommen zu lassen, was in optimaler Weise geschieht, wenn wir die Frau als einen solchen Gegenstand nehmen (worauf sich der Sammler sogleich entschuldigt, dass er die Frau als einen Gegenstand bezeichnet hat, was er ja auch nur im grammatikalischen Sinn gemeint habe, die Grammatik, dieses Hurending, verdingliche eben alles, er persönlich liebe die Frauen).
Wie jeder Sammler denkt sich auch der Frauensammler die Welt als ein Album. Wer ein Album führt, kennt den Gram der Lücke. Jedes Album zielt auf Vollständigkeit. Deshalb glaubt der Frauensammler, keine Frau auslassen zu dürfen.
So kam es, dass ein Mann von Vermögen auf Genesungsurlaub in einem Sanatorium in den Schweizer Bergen war. Er fühlte sich bereits gesund und lag bei schönem Wetter auf seiner Veranda. Die anderen Gäste langweilten ihn, und er hoffte jeden Tag auf eine interessante Neuerscheinung. So sagte er dazu, als handle es sich um ein Ding zum Vergnügen. An einem Vormittag beobachtete er, wie eine Frau mit einem kleinen Buben an der Hand aus dem Taxi stieg. Zwei Koffer wurden ihr nachgetragen. Er sah kurz auf ihren glänzenden Scheitel und stellte sich ihr Gesicht vor. Er fragte an der Rezeption, wer die Dame sei und woher sie komme. Der Portier gab ihm Auskunft (der Mann würde ihm großzügig Trinkgeld geben).
Also, die Frau kam aus Wien, ihr kränklicher Sohn sollte sich in den Bergen erholen. Ihr Frühstück habe sie auf zehn Uhr bestellt.
Um diese Zeit fand sich der Mann ein und nahm an einem benachbarten Tisch Platz. Er schätzte die Frau auf Mitte dreißig, sie wirkte gelangweilt, und fragte sie der Sohn etwas, gab sie ungeduldig Antwort. Dem Mann gefiel sie vom Aussehen her, sie war zwar ein wenig üppig und würde im Alter dick werden, aber noch konnte sie punkten.
Nach dem Frühstück stand ihr Sohn in der Hotelhalle, der Mann nahm sich vor, sich mit ihm ein wenig anzufreunden. Er erzählte von Elefanten in Afrika und fragte den Buben, ob er Tiere gern habe. Der Bub schwärmte von einem Hund, den er sich wünsche, aber die Mutter wolle kein Tier im Haus. „Ich werde mit ihr reden“, sagte der Mann. „Ich könnte