Der Mensch ist verschieden - Dreiunddreißig Charaktere - Kapitel 3
sollen sich fragen: Was hat es mit diesem Duft auf sich? Was verbindet sie mit diesem Duft? Es kann doch nicht der Duft selbst sein, sicher erinnert er sie an ein Erlebnis, an eine Begegnung, aber an was für ein Erlebnis, an was für eine Begegnung?
Die Eskapaden von der Feinsten von den Feinen verlangen einen lockeren Zugriff auf das Portemonnaie. Mitten im Sommer trägt sie durchsichtige Strümpfe, ihre Schuhe streicheln den Asphalt, die Sohlen sind farbig, einmal rot, dann gelb, dann blau, abgestimmt auf das Übrige, und sie bleiben farbig, denn ehe sie grau werden wie der Asphalt, werden die Schuhe ausgemustert.
Der Feinsten von den Feinen lüftelt ein Chiffontuch um den Hals, jederzeit erwartet sie den Postillon d’Amour. Permanent wirft sie Perlen vor die Säue. Die Säue aber halten es nicht für möglich, dass sie Säue sind.
Begibt sich die Feinste von den Feinen wider Erwarten in die Natur hinaus, verfängt sich ihr Schal in den Dornen, ihre Knie knicken ein, und sie sägt sich blöderweise den Ast ab, auf dem sie sitzt. Die Vögel zwitschern sie aus, und sie beschimpft sie mit den unflätigsten Worten. „Halt’s Maul, du blöder Aff“, sagt sie zum Beispiel zu einer Amsel.
Nur ein Mann, der sich selbst ebenfalls für das Feinste vom Feinsten hält, würde sich der Feinsten von den Feinen für würdig erachten und die Feinste von den Feinen umgarnen. Dies aber wäre ein logisches Dilemma. Denn wie kann einer etwas anderes neben sich als das Feinste vom Feinen gelten lassen, wenn er doch nur in sich selbst das Feinste vom Feinen sieht. Also wird die Feinste von den Feinen zwingend und bis an ihr Ende allein bleiben.
10 Der Wüstenmacher
Wüstenmacherei sei, so spricht sie selbst, das Produkt einer Ausweglosigkeit. Aber, so stellt sich heraus, sie selbst war es, die solche Ausweglosigkeit schuf.
Den Wüstenmacher aber erfasst satte Ruhe, wie man sie nach langem Weinen empfindet. Er lässt sich auf sein Kissen fallen und schließt die Augen. Seine Rosen sind versorgt, gedüngt im richtigen Mond, seine Bleistifte sind gespitzt, die Kinder schlafen, die Frau poliert nur noch die Türklinken. Was entmutigt mehr als verklebte Türklinken? Jeden Tag predigt der Wüstenmacher am Mittagstisch über das Händewaschen. Selbst die Frau, die eigentlich reinlich ist, achtet zu wenig darauf.
Noch bevor sein Traum beginnt, checkt der Wüstenmacher seine Liste im Kopf mit seinem treuen imaginären Rotstift. Ergebnis: Er kann gerade stehen und dem Feind ins Auge blicken. – Dem Feind? Hat der Wüstenmacher Feinde?
Der Traum zieht ein in seinen Schlaf.
Da fürchtete sich der Wüstenmacher. Er hatte Angst, an einen Ort verfrachtet zu werden, wo die Welt in Flammen steht. Wo Kinder geboren werden ohne Ärzte und Hebammen. Er hörte das Gejammer. Ein Messer auf einem Schleifstein wurde geschärft. Nabelschnüre mussten durchtrennt werden. Hagel trommelte gegen die Wände.
Da bricht zu seinem Glück und seinem Trost der Tag herein wie ein Schlag mit dem Hammer.
11 Der Vampirgewordene
Der Vampirgewordene war vormals ein stattlicher Mann mit Tenorstimme, er trug angemessene Kleidung, konservativ. In der Mitte seiner Jahre magerte er zum Bleistift ab, und jeder, der ihm begegnete, sah ihn als Todeskandidaten. Aber er starb nicht. Oder er starb doch.
Nun, da er zum Vampir geworden ist, gleicht er einer Abbildung aus einem Gespensterbuch für Kinder. Sein Gesicht läuft spitz zu, um seine magere Taille windet sich eine breite Schärpe. Er trägt Schwarz. Seine Schuhe sind unsauber, als irrte er nachts durch Hinterhöfe und brache Gärten. Kommt er unverhofft auf einen zu, in seinem schleppenden Gang, erschrickt man bis an die Schwelle des Todes. Tatsächlich sieht er aus wie eine verletzte Fledermaus. Zu schnellen Bewegungen ist er nicht mehr in der Lage. Um seinen Hals schlängeln sich Ketten. Die Furchen in seinem Gesicht verlaufen dergestalt, dass sein Ausdruck gierig wirkt, ausgehungert und gefährlich. Sein Mund lächelt, sein Auge nicht. Nicht nur Zimperliche entsetzen sich über seinen Anblick. Er nennt entfernt Bekannte seine besten Freunde, nähert sich dir bis auf die Haut, grüßt mit Berührung am Oberarm, küsst dich auf die Wange. Sein Atem ist entsetzlich! Als hätte er sich selbst in den Hals geschissen. So saugt er die Kraft aus dem Körper dessen, den er seinen alten Freund nennt. Lass ihn nicht zu nahe an dich heran! Der Geküsste spürt eine augenblickliche Mattigkeit und weiß doch nicht, woher sie rührt. Die Blutpunkte an seinem Hals kann er ja nicht sehen.
Wahrscheinlich ist, dass der Vampirgewordene von seiner Vampirhaftigkeit gar nichts weiß. Er selbst würde Grundbesitzer, Bankdirektoren und Manager als Vampire bezeichnen. Und Anwälte. Er hat mehrere Prozesse am Laufen.
Der Vampirgewordene steht an der Tankstelle und hält Ausschau. Ein wunderbar wuchtiger Wagen fährt vor.
„Was haben Sie für einen wunderbar wuchtigen Wagen!“, ruft er aus.
„Was nützt er mir!“, antwortet der Wagenbesitzer. „Ich bin krank zum Tode. Ich schenke Ihnen den Wagen. Ich habe zwar einen Sohn, einen missratenen, der wird gegen Sie prozessieren, weil er den Wagen nach Rumänien verkaufen will, aber das soll Sie nicht weiter stören. Kommen Sie morgen bei mir vorbei, dann machen wir alles aus.“
So kam der Vampirgewordene an seinen wunderbar wuchtigen Wagen. Achtung! Er tut vertraulich, boxt gegen deinen Oberarm, flüstert: „Es ist wahr! Ich schwöre! Ich glaube es selber kaum!“
Vampirgewordensein ist ein Zustand zwischen allem, das ist bekannt.
Der Vampirgewordene muss von allem etwas haben; es darf aber nicht so viel sein, dass es genügen könnte, wozu auch immer. So stellt sich Vampirgewordensein als ein universeller Mangel heraus. Weil der Vampirgewordene aber von allem etwas hat, erscheint er uns als vielseitig, überbegabt, mit allen Wassern gewaschen, allwissend, gelenkig – und das bei offensichtlicher Einseitigkeit, Unbegabtheit, Einfältigkeit, Unwissenheit, Steifheit, Torheit.
Noch nicht entschieden ist die Frage, ob Vampirhaftigkeit überhaupt als Charaktereigenschaft bezeichnet werden kann. Vampire sind Un-Tote, also Tote, denn ein „Un“ davor macht nicht lebendig. Aber kann ein Toter Eigenschaften haben?
12 Der Abgestürzte
Der Absturz, von dem der Abgestürzte seinen Namen hat, geschieht nicht unbedingt aus großer Höhe. Das heißt, ein Abgestürzter ist nicht zwingend einer, der Karriere gemacht hat, der Generaldirektor gewesen ist oder Gymnasialdirektor oder Zirkusdirektor und nun in der Gosse liegt, um geläufige Beispiele zu nennen. Es muss sich auch nicht um einen Hochbegabten handeln, der seine Gaben verkommen hat lassen, oder um einen allzu leidenschaftlich Liebenden, der allzu leidenschaftlich geliebt hat und nun büßt. Der Begriff Absturz, wie wir ihn hier verwenden, meint den schlichten Fall aus dem Leben, aus dem Zustand des Beieinanderhaltens aller fünf Sinne.
Der Abgestürzte aber ist ein Mann, der sein Dasein mit Hängen und Würgen hinter sich bringt. Längst hat er sein Gesicht verloren. Er fristet sein Leben mittels milder Gaben. Er schämt sich seiner Existenz, und bittet er um Geld, erfindet er ein neues Wort dafür. Er sagt nicht: Bitte, gebt mir Geld! Er sagt: „Dürfte ich um den Beitrag für die Akademie der Wissenschaft bitten.“ Er sagt das, weil er meint, wo er als originell empfunden wird, ist es weniger beschämend für ihn zu betteln. Manchmal redet er auch in wirren Assoziationen, damit man ihn für eine Art Derwisch halten könnte. Selber weiß er, dass er noch meilenweit von einer pathologischen Verwirrtheit entfernt ist, die ihn vor sich selbst und der Welt entschuldigen würde.
Der Abgestürzte würde so gern wieder einmal eine Frau haben. Wenigstens für eine Nacht. Es ist so lange her. Irgendwann, sagt er sich, irgendwann war ich mit einer Frau zusammen. Er kann sich an ihr Gesicht nicht erinnern, er kann sich nicht erinnern, was sie geredet hatten, an ihre Berührungen kann er sich auch nicht erinnern, ebenso wenig an ihren Namen oder an ihre Adresse. Sie hat mich aber gern gehabt, denkt er. Warum auf einmal nicht mehr? Oder war ich es, der sie auf einmal nicht mehr gern gehabt hat?
An ihre Cowboy-Stiefel erinnert er sich, die waren aus zweifarbigem Leder.
„Wie putzt du die?“, hatte er sie gefragt.
„Mit farbloser Creme“, hatte sie ihm geantwortet.
Dieser Wortwechsel ist das Einzige, woran er sich erinnert. Und an ihre Brüste in seinen Händen. Aber da ist er sich nicht sicher. Könnte auch eine allgemeine Einbildung sein.
Gern würde er ein Frau haben.
Einmal setzt er sich in die Mittagssonne vor eine Haustür, er bricht einer Flasche den Hals, trinkt, bis die Seele lodert, und lässt sich auf den fremden Fußabstreifer fallen. Niemand jagt ihn weg. Fühlt er sich wieder nüchtern, will er seinem Wohltäter sein Fahrrad schenken.
13 Der Nimmersatte
Nimmersattheit definiert sich über die Begriffe, die das Wort enthält. Anzumerken wäre aber, dass diese Charaktereigenschaft im Grunde eine zutiefst religiöse ist.
Der Nimmersatte kauft tatsächlich zum elften Mal den gleichen Gegenstand, den er bereits zehnmal gekauft hat. (Es empfiehlt sich, abstrakt zu bleiben. Würden wir einen konkreten Gegenstand nennen, zum Beispiel eine Madonna aus Blech, könnte dies die Aufmerksamkeit vom Thema abziehen. Fragen würden sich in den Vordergrund schieben, wie: Ist der Nimmersatte ein Sammler? Ist Nimmersattheit also nichts weiter als ein Synonym für Sammelleidenschaft? Sammelt er noch andere Dinge aus Blech? Was für Dinge? – Wäre das Kapitel mit Der Sammler überschrieben, hätte solche Abschweifung Sinn, es wäre dann gar keine. Wir verweisen noch einmal darauf, dass Nimmersattheit im Grunde eine religiöse Eigenschaft ist, und Religion hat im Kern keinen beschreibbaren Gegenstand.) Zu Hause stellt der Nimmersatte fest, dass ein Gegenstand wie der andere ist, folglich sind es nicht elf an der Zahl, sondern lediglich ein einziger steht vor ihm, ein einziger zehnmal gespiegelt, und dieser einzige findet ganz und gar nicht des Nimmersatten Gefallen, an allen Ecken und Enden scheint ihm der Gegenstand unvollendet. (Warum? Eben weil er konkret, nämlich beschreibbar ist!) Deshalb legt er alle elf unter seine Füße und zerstampft einen nach dem anderen.