Der Mensch ist verschieden - Dreiunddreißig Charaktere - Kapitel 2
vorausgesetzt, er hat ihr die Wahrheit gesagt. Sie waren vor einem Gemälde gestanden, das eine Frau und einen Mann zeigte, die sich ansahen, und sie, die damals noch nicht Einsame, die aber bereits ahnte, dass sie bald einsam sein würde, hatte zu ihm, ihrem Geliebten, gesagt: „Schau, die beiden, welche Sehnsucht in ihren Augen!“ Und er, er hatte geantwortet: „Sie leben in der zweidimensionalen Welt des Bildes. Sie können nie zueinander finden. Ebenso wenig, wie du zu einem deiner Vorfahren finden kannst.“
Manchmal gelingt es der Einsamen, doppelt wahrzunehmen, und oftmals entgegengesetzt. Ist sie so unvorsichtig, diese Erkenntnis jemandem mitzuteilen, und wird gefragt, was sie genau damit meine, gerät sie ins Stocken und findet keine Worte dafür. Zu Hause fragt sie sich: Ja, was meine ich damit? Ich sah das Bild im Museum, und es tat mir wohl, weil ich meinte, es beweise, dass Sehnsucht nicht nur wehtut. Zugleich wusste ich, dass sich die Frau und der Mann auf dem Bild nie, nie, nie würden berühren können. Nur jemand, der einsam sein will und es doch nicht sein will, der mitlachen will und es doch nicht will, kann das verstehen.
Sieht sie glänzend schwarzen Salamandern zu, die sich auf der feuchten Erde paaren, überfällt die Einsame alles Elend. Denn nun sieht sie ja: Vor ihren Augen bewegt sich die Kreatur in Gottes Gegenwart.
Zu Hause sitzt die Einsame am Bettrand und hört überlaut Musik. Ein Mensch streckt den Kopf zur Tür herein und sagt mir zorniger Stimme, sie tue gerade so, als ob sie allein auf der Welt wäre.
„Ich bin allein“, sagt die Einsame. „Ihr tut gerade so, als wäret ihr nicht allein.“
4 Die Abgeklärte
Die Abgeklärtheit berührt an ihrem linken Rand die Langeweile, an ihrem rechten den Trotz. Was aber nicht heißt, dass von den beiden in ihr etwas zu finden wäre – nicht die Spur davon! Sie ist eingeklemmt zwischen diesen Klötzen und kann sich nicht bewegen, hat sich aber damit abgefunden. Weswegen der Abgeklärtheit immer etwas Resignatives anhaftet. Es ist möglich, Abgeklärtheit zu erlangen; meistens ist sie jedoch gegeben.
Die Abgeklärte sagt von sich, sie sei alt wie eine Kuh und lerne immer noch dazu. Dass sich dieser Satz reimt, fällt ihr erst auf, als sie ihn einmal laut und in Gesellschaft sagt. Von da an sagt und denkt sie ihn nicht mehr. Gereimtes klingt in ihren Ohren nach gewollter Lebensweisheit, und sie hält sich weder für weise, noch will sie weise sein, noch glaubt sie, dass ein Zustand wie Weisheit irgendetwas mit dem Leben zu tun hat. Angesichts der Natur findet sie den Wunsch, weise zu sein, abgeschmackt. Nicht, weil sie in der Natur den Inbegriff der Weisheit erkennt, sondern im Gegenteil: weil die Natur all diese herrlichen Begriffe – Weisheit, Tugend, Güte, aber auch Torheit, Hoffnung und Wahn – als Illusionen entlarvt.
Nicht selten denkt sie: Ja.
Spinnen an den Wänden betrachtet sie mit Neugierde, niemals zerstört sie ihre Netze. Streut das Unkraut Samen zwischen die Bodenplatten, lässt sie es wüten. Schnecken, die ihre Salatsetzlinge gefressen haben, betrachtet sie mit einem Gesichtsausdruck, den ihr Neffe als großmütig interpretiert, was jedoch falsch ist. Ameisen auf ihrer Küchenanrichte versucht sie, mit einer Honigspur in den Garten zurückzulocken; wenn daraufhin noch mehr Ameisen auf eben dieser Spur in die Küche immigrieren, amüsiert sie sich über ihre eigene Unbedachtsamkeit – aber sie ärgert sich nicht, sie schüttelt nur den Kopf, und die Locken fallen ihr in die Stirn. Ihr Neffe hingegen macht ihr Vorwürfe, die er mit etwas Heiterkeit abmildert. Zu Hause erklärt er seinen Eltern, man müsse sich allmählich etwas überlegen.
Was einmal ein Garten war, ist unter der gleichgültigen Hand der Abgeklärten zum Dschungel geworden. Der Bambus treibt Stecken vom Zaun bis zum Haus, der Knöterich wächst über den Kirschbaum hinauf wie eine Halde, und wo das Rosenbeet war, wuchert Brombeergesträuch.
Die Abgeklärte staunt. Nicht dass sie ausgesprochen gern staunt – auch solche Charaktere gibt es –, sie staunt, wenn sich das Staunen lohnt. Bewunderung zollt sie den kraftvollen Gewächsen. Brüllen Kahlköpfige gefährliche Parolen auf der schwarzen Straße vor ihrem Fenster, tritt sie im weißen Nachtgewand vor und stößt einen grellen Schrei aus, so dass die Kahlköpfigen meinen, ein Geist sei ihnen erschienen.
Auf dem Totenbett bäumt sich die Abgeklärte auf und verliert ihre Fassung. Und dann ist es aus mit ihr.
5 Der Abgeklärte, zehnjährig
Der Abgeklärte, zehnjährig, Ältester von fünf Geschwistern, sitzt über der Rechenaufgabe, ein Brüderchen reibt die Rotznase an seinem Knie, ein Schwesterchen übt Aufstehen an seinem Stuhl, ein drittes rutscht auf seiner Schulmappe durch die Stube, das Jüngste schreit in der Wiege. Der Abgeklärte, zehnjährig, dividiert ins Heft und gleichzeitig fliegt ihm eine Melodie zu. Er überlegt sich: Gibt es die schon, oder handelt es sich womöglich um eine Eigenkomposition?
Verlangt der Vater Ruhe beim Nachtessen, weil er zum fünften Mal an diesem Tag die Nachrichten hören möchte, sagt der Abgeklärte, zehnjährig: „Ich kann die Nachrichten auswendig.“ Der Vater schlägt ihm mit der Gabel auf die Finger. Der kleine Abgeklärte steht auf und geht stumm in den Keller. Er setzt sich auf die Obstkiste, bedeckt sein Gesicht mit den Händen und nimmt Kontakt mit einem höheren Wesen auf.
Diese Art von Abgeklärtheit bildet zweifellos den Nährboden für ein Genie. Gelingt es einem solcherart Abgeklärten allerdings, ein Leben lang unproduktiv zu bleiben, nie eine Eigenkomposition zu Papier zu bringen, nie einen Roman zu Ende zu schreiben oder ein Bild zu malen, geschweige denn einen Betrieb zu gründen oder ein Forschungsinstitut aufzubauen – dann kommt man nicht umhin zu sagen: Hier hat sich die Konzentrationsfähigkeit eines Genies vergeudet. Oder aber man hat ein Beispiel für die satanische Macht von Langeweile und Trotz vor sich.
6 Der Stumpfsinnige
Der Stumpfsinn bedarf keiner Definition.
Der Stumpfsinnige aber starrt auf den bemoosten Stamm und starrt auf die Baumameisen, die eine Narbe bevölkern, auf- und abwimmeln, wuseln. Der Stumpfsinnige bewegt den Kopf nicht von dieser Narbe weg. Der Stumpfsinnige starrt auf die Ameisen, die übereinanderlaufen und nie stillhalten, auf- und abwimmeln, wuseln. Der Stumpfsinnige schaut und schaut nur dorthin. In einem hellen Augenblick überlegt sich der Stumpfsinnige, wie es wäre, wenn er eine von diesen Ameisen wäre, in dieser Baumnarbe läge, fest schliefe, und seine Kameraden, die emsigen Ameisen, gingen über seine Haut hinweg und nichts hielte ihn davon ab, zu schlafen und an gar nichts zu denken.
Erkundigt sich ein Mitfühlender nach seiner Verfassung, antwortet der Stumpfsinnige mit einem Kopfnicken. Und der Mitfühlende weiß nichts.
7 Die Schweigerin
Der Tag, an dem die Schweigerin das erste Wort sprechen wird, nach langer, langer Zeit, wird furchtbar sein, nicht auszudenken, und die Schweigerin fürchtet sich jeden neuen Tag davor und schiebt den Augenblick vor sich her wie einen Dreckhaufen. Allen Ernstes erwägt die Schweigerin, ihrem Leben ein Ende zu setzen, womöglich mit einem letzten Schrei, so jedenfalls wäre diesem Problem ausgewichen. Vor lauter Unglück über die Falle, in die sie geraten war durch eigene Schuld, betet sie in der Nacht um den rechten Augenblick. Die Vorstellung, das erste Wort in Anwesenheit eines weiteren Menschen könnte zur Sensation ausarten, macht die Schweigerin hilflos wie einen Fisch, der von einem Fischadler an Land gezogen wird.
8 Der Langanhaltend-Traurige
Lang anhaltende Traurigkeit ist ein Genuss. Man könnte sie auch als aktive Langeweile bezeichnen. Denn während der Gelangweilte etwas tun will und nichts findet, was sich zu tun lohnt, will der Langanhaltend-Traurige gar nichts tun, obwohl er weiß, dass es viel gäbe, was man mit Genuss tun könnte. Gleichzeitig aber weiß er, dass jeder Genuss nur kurz anhält. Er aber ist nur an Langanhaltendem interessiert.
Der Langanhaltend-Traurige sitzt an seinem Tisch und starrt auf die grüne Filzauflage. Er spult sein Leben zurück und findet nur Situationen, die zum Weinen sind, nie sieht er im Rückblick die Sonne auf seine grüne Filzauflage scheinen. Und dennoch weiß er, wie seine grüne Filzauflage aussähe, wenn die Sonne darauf schiene. Er weigert sich, ans Licht zu gehen. Es würde, sagt er sich, nie so sein, wie er meint, dass es sein müsste, um ihm seine langanhaltende Traurigkeit zu nehmen, angenommen er wollte, dass sie ihm genommen würde.
Der Langanhaltend-Traurige sagt über sich, er fühle sich wie übrig gebliebener Essig in einer Salatschüssel. Sich mit dem Unbedeutenden zu vergleichen, macht ihm ein bisschen Freude und ein bisschen Mut. Er wartet aber nicht, dass ihm widersprochen wird. Denn er ist weder eitel noch kokett. Fragt ihn ein Kamerad, ob etwas für ihn getan werden könne, zieht der Langanhaltend-Traurige eine längliche Geste, hält traurig mit der Hand inne und dreht den Kopf zur Seite. Niemand kann diese Geste deuten.
Der Langanhaltend-Traurige trauert und gleichzeitig rührt er in seinem Joghurt, und die Tränen fallen in die Schaumcreme. Er taucht den Löffel tief bis zum Bechergrund, rührt kräftig und es gefällt ihm, eigene Tränen gekostet zu haben.
Eines Abends gelingt ihm vor dem Spiegel ein etwas schwierigerer Krawattenknoten als sonst. Das genügt: Er verlässt seine Wohnung und stürzt sich in die Massen. Draußen!
9 Die Feinste von den Feinen
Das Feinste vom Feinen bleibt häufig liegen, weil es den meisten Menschen zu anstrengend ist – es geht nämlich über ihre Leisten. Ihnen genügt das Zweitfeinste oder gar das Unfeine. Für manche Dinge wird sogar mit Hinweis auf ihre Unfeinheit geworben.
Die Feinste von den Feinen setzt sich niemals in Positur, ohne up to date zu sein. Jedem will sie ein Rätsel bieten. Ihr war beigebracht worden, das Grobe sei niemals rätselhaft. Sogar Macbeth, einer der Gröbsten, habe eine fein ziselierte Seele. Darum verwendet die Feinste von den Feinen ausschließlich eine einzige Duftmarke, und jeder in der Stadt erkennt sie an ihrem Geruch und an ihren Posen. Die Menschen