Der Glanz der Dunkelheit - Seite 2
löcherte ihn mit Fragen nach jeder Einzelheit, die er über die Pläne des Komizars wusste. Doch ich spürte, dass er mit den Gedanken woanders war. Ich war ihm dankbar, dass er es nicht angesprochen hatte, aber ich wusste, dass unsere Begegnung in der Scheune auf ihm lastete. Es war nur ein flüchtiger, erschöpfter Augenblick gewesen, in dem er mich auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das war alles. Nach einem Teller Fischsuppe, die überraschenderweise fast so gut wie die von Berdi war, fühlte ich mich gestärkt und bereit weiterzumachen.
Nun ließ Kaden geduldig all die Fragen über sich ergehen, die ich ihm doch schon gestellt hatte. Seine Antworten waren dieselben. Er wusste nur vom Kanzler. Vielleicht waren er und der Königliche Gelehrte die einzigen Verräter im Rat. Aber war das möglich?
Meine Beziehungen zu sämtlichen Ratsmitgliedern konnte man bestenfalls schwierig nennen, vielleicht mit Ausnahme des Vizeregenten und des Jagdführers. Diese beiden hatten normalerweise ein Lächeln und ein nettes Wort anstelle eines ablehnenden Blicks für mich übrig gehabt. Aber das Amt des Jagdführers im Rat war hauptsächlich zeremonieller Natur, ein Relikt aus früheren Zeiten, als das Bestücken der Vorratskammer noch die vordringliche Pflicht des Rats gewesen war. Meistens wohnte er den Ratsversammlungen nicht einmal bei. Der Königlichen Ersten Tochter stand ebenfalls ein Sitz zu, doch meine Mutter, die ja auch eine Erste Tochter war, hatte man selten an den Ratstisch gebeten.
Meine Gedanken wanderten zurück zum Vizeregenten. »Pauline wird als Erstes zu ihm gehen«, erläuterte ich Kaden. »Er war der Einzige im Rat, der immer ein offenes Ohr für mich hatte.« Ich kaute auf meinen Fingerknöcheln herum. Häufige Reisen in andere Königreiche gehörten zu den Aufgaben des Vizeregenten, und ich machte mir Sorgen, dass er auch jetzt unterwegs sein könnte. Wenn das der Fall war, würde Pauline stattdessen zu meinem Vater gehen, ohne seine Reizbarkeit richtig einschätzen zu können.
Kaden reagierte auf nichts, was ich sagte, und starrte nur leer durch den Raum. Plötzlich stand er auf und durchwühlte unsere Vorräte. »Ich muss los. Es ist nicht weit von hier. Nur eine Stunde westlich von Luiseveque im Bezirk Düerr. Wir werden dadurch keine Zeit verlieren.« Er benannte einen Treffpunkt nördlich von hier, an dem er Natiya und mich morgen erwarten würde, und riet mir, einen Weg durch den Wald zu wählen. »Niemand wird euch sehen. Das ist sicherer für euch.«
»Du willst jetzt weg?« Auch ich erhob mich und nahm ihm einen Sack Dörrfleisch aus der Hand. »Du kannst doch nicht nachts reiten.«
»Enzo schläft. Es ist die beste Zeit, ihm zu vertrauen.«
»Du musst dich auch ausruhen, Kaden. Was …«
»Ich werde mich ausruhen, wenn ich dort bin.« Er nahm mir das Dörrfleisch wieder weg und begann, seine Tasche neu zu packen.
Mein Herz klopfte schneller. Das sah Kaden gar nicht ähnlich. »Was gibt es denn so Dringendes in Düerr zu erledigen?«
»Ich muss etwas aus der Welt schaffen, ein für alle Mal.« Die Muskeln an seinem Hals waren gestraffte Seile, er mied meinen Blick. Und da wusste ich es.
»Dein Vater«, sagte ich. »Er ist der Lord von Düerr, oder?«
Er nickte.
Ich trat beiseite, während ich versuchte, mir die Bezirkslords ins Gedächtnis zu rufen. In Morrighan gab es vierundzwanzig von ihnen; die Namen der meisten kannte ich nicht – vor allem nicht die der Lords hier in den südlichen Bezirken –, aber ich wusste, dass dieser Lord vermutlich nicht mehr lange zu leben hatte.
Ich setzte mich auf einen Hocker in der Ecke; es war derselbe, auf dem Berdi damals meinen Hals versorgt hatte. »Wirst du ihn töten?«, fragte ich.
Kaden antwortete nicht sofort. Schließlich zog er einen Stuhl zu sich und setzte sich verkehrt herum darauf. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich wollte nur das Grab meiner Mutter besuchen. Sehen, wo ich früher gelebt habe, den letzten Ort, an dem …« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es einfach nicht auf sich beruhen lassen, Lia. Ich muss ihn wenigstens dieses eine Mal noch treffen. All das ist für mich nicht abgeschlossen, und vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit, es zu ändern. Ich kann nicht wissen, was ich tun werde, bevor ich ihn sehe.«
Ich versuchte erst gar nicht, es ihm auszureden. Ich brachte keinerlei Mitgefühl für diesen Lord auf, der seinen kleinen Sohn ausgepeitscht und dann wie eine wertlose Ware an Fremde verschachert hatte. Mancher Verrat ging zu weit, als dass er je vergeben werden konnte.
»Sei vorsichtig«, sagte ich.
Er drückte meine Hand, und der Sturm in seinen Augen tobte noch heftiger. »Morgen«, erwiderte er. »Ich werde da sein. Versprochen.«
Er stand auf und wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal an der Küchentür stehen.
»Was ist?«, wollte ich wissen.
Er drehte sich zu mir um. »Da gibt es noch etwas, was nicht abgeschlossen ist. Ich muss es wissen. Liebst du ihn noch?«
Seine Frage traf mich – ich hatte sie nicht erwartet, obwohl ich das hätte tun sollen. Ich sah sie in seinen Augen; jedes einzelne Mal, wenn sein Blick auf mir ruhte. Als er mich auf dem Scheunenboden umarmte, wusste er, dass ich keinen Staub in die Augen bekommen hatte. Unfähig, ihm ins Gesicht zu schauen, erhob ich mich und ging zum Arbeitstisch, um nicht vorhandene Krümel wegzuwischen.
Ich hatte ja nicht einmal mir selbst gestattet, darüber nachzudenken. Liebe. Sie fühlte sich dumm und selbstvergessen an angesichts all dessen, was gerade geschah. Spielte sie wirklich eine Rolle? Mir fiel Gwyneths bitteres Lachen ein, als ich gesagt hatte, ich wünschte mir eine Liebesheirat. Sie wusste schon, was ich noch nicht begriffen hatte. Es ging nie gut aus, für niemanden. Nicht für Pauline und Mikael. Walther und Greta. Sogar Venda bewies das: Sie war mit einem Mann davongeritten, der sie am Ende tötete. Ich dachte an das Mädchen Morrighan, das man aus seinem Stamm entführt und für einen Sack voll Getreide als Braut an Aldrid den Plünderer verkauft hatte. Irgendwie hatten sie gemeinsam ein großes Königreich errichtet, aber bestimmt nicht auf dem Fundament der Liebe.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht mal mehr sicher, was Liebe überhaupt ist.«
»Aber ist es nicht anders zwischen uns als zwischen dir und …« Er ließ die Frage unvollendet, als würde es ihm zu sehr wehtun, Rafes Namen auszusprechen.
»Doch, es ist anders zwischen uns«, entgegnete ich ruhig. Ich suchte seinen Blick. »Das war es immer, Kaden, und wenn du ehrlich zu dir bist, dann hast auch du das schon immer gewusst. Von Anfang an hast du gesagt, dass Venda an erster Stelle kommt. Ich kann mir nicht genau erklären, wie es gekommen ist, dass sich unsere Leben miteinander verflochten haben, aber es ist nun einmal so – und jetzt machen wir uns beide etwas aus Venda und Morrighan und wollen ihnen das Schicksal ersparen, das der Komizar ihnen zugedacht hat. Vielleicht ist es das, was uns zusammengebracht hat. Schmälere nicht das Band, das uns verbindet. Große Reiche wurden schon auf viel weniger gegründet.«
Er sah mich mit rastlosem Blick an. »Was war das, was du auf dem Weg hierher in den Staub gezeichnet hast?«
»Das waren Worte, Kaden. Nur verlorene, ungesagte Worte, die so etwas wie ein Lebewohl bedeuteten.«
Er holte tief Luft. »Ich versuche, da durchzukommen, Lia.«
»Ich weiß. Ich auch.«
Sein Blick ruhte weiter auf mir. Dann nickte er und ging. Von der Tür aus sah ich zu, wie er davonritt und die mondlose Nacht ihn binnen Sekunden verschluckte. Mir tat weh, dass ich ihm nicht geben konnte, was er sich so sehr wünschte.
Ich kehrte in die Küche zurück und blies die Laterne aus, aber ich konnte diesen Tag noch nicht loslassen. Ich lehnte mich gegen die Wand, die mit Zetteln bedeckt war – Listen, die versuchten, das Leben festzuhalten, für das Berdi vor Jahrzehnten ein anderes hatte ziehen lassen.
Bereust du es, nicht gegangen zu sein?
Ich kann jetzt nicht mehr über solche Dinge nachdenken. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe getan, was ich damals tun musste.
Ich drückte die Hände an die kühle Wand hinter mir.
Was geschehen war, war geschehen.
Ich konnte nicht weiter darüber nachgrübeln.
*
Früh am nächsten Morgen plünderte ich Berdis Schrank, doch ich fand nur einen Teil dessen, was ich brauchte.
»Natiya, bist du gut im Umgang mit Nadel und Faden?«
»Sehr gut«, antwortete sie.
Das hatte ich vermutet. Einen Saum aufzureißen, ein Messer in einem Mantel zu verstecken und alles dann in einigen wenigen kostbaren Sekunden wieder zusammenzunähen hatte noch nie zu meinen Fertigkeiten gehört – sehr zum Kummer meiner Tante Cloris.
Ich bat Enzo um Geld. Das Geld, das Rafe mir gegeben hatte, hatte ich in Turquoi Tra für Boten ausgegeben. Enzo zögerte nicht und zog einen Beutel aus dem Kartoffelfass in der Vorratskammer. Er warf ihn mir zu. Es war nicht viel, aber ich nahm es erleichtert an, steckte es ein und nickte zum Dank. »Ich werde Berdi sagen, wie gut du deine Sache hier machst. Sie wird sehr zufrieden sein.«
»Du wolltest überrascht sagen«, entgegnete er verlegen.
Ich konnte es nicht abstreiten und zuckte die Achseln. »Das auch. Und denk daran, Enzo: Du hast mich nie gesehen.«
Er nickte. Verstehen lag in seinem Blick, und ich staunte wieder über seine Verwandlung. Rafes Drohungen hatten ohne jeden Zweifel Eindruck auf ihn gemacht, aber ich war mir sicher, dass es die Magie von Berdis Vertrauen war, die ihn verändert hatte. Jetzt musste ich nur noch beten, dass diese Veränderung von Dauer war.
Wir stahlen uns davon, so lautlos wie die Nacht, um nur ja keine Gäste aufzuwecken.
*
Die Verkäuferin im Laden freute sich sehr, uns zu sehen. Wir waren die ersten Kunden an diesem Tag – und die einzigen. Ich sah sie blinzelnd durch den durchsichtigen weißen Schleier spähen, der mein Gesicht bedeckte. Ich fragte, ob sie rote Atlasseide habe, und sie versuchte erst gar nicht, ihre Überraschung zu verbergen. Die meisten Witwen hätten nach tristeren, gediegeneren Stoffen gefragt.
Natiya überraschte mich mit ihrer raschen Erklärung. »Meine Tante wünscht, zu Ehren ihres verblichenen Ehemanns einen Wandteppich anfertigen zu lassen. Rot war seine Lieblingsfarbe.«
Ich schluchzte kurz auf und nickte zur Bekräftigung.
Binnen Minuten standen wir wieder auf der Straße, mit einem Meter Extrastoff, den die mitfühlende Verkäuferin uns geschenkt hatte.
Wir hatten noch eine Station vor uns, doch was ich dort brauchte, ließ sich nicht mit der üblichen Währung bezahlen. Ich hoffte nur, dass ich die Währung, die ich benötigte, parat hatte.
Rafe
MEINE VERWANDLUNG vom Soldaten zum König war sehr plötzlich vonstattengegangen, und nun hatte es den Anschein, als wollte jeder Freiherr in der Versammlung sein Stück vom Kuchen abbekommen. Ich wusste, dass sie mit ihrem Maulheldentum mein Ohr und meine Aufmerksamkeit erringen wollten, und ich spielte mit. Die acht Ratsmitglieder waren am forderndsten, aber sie hatten auch am engsten mit meinem Vater zusammengearbeitet.
Natürlich hieß man mich willkommen, aber jedes Mal verbarg sich darin auch ein Vorwurf – Wo wart Ihr? – und eine Warnung: Die Unruhen haben sich weit ausgebreitet. Es wird Zeit brauchen, bis all das heilt.
Der Königliche Leibarzt überbrachte mir die schmerzlichste Nachricht. Eure Eltern haben auf dem Sterbebett nach Euch gefragt. Ich habe ihnen versprochen, dass Ihr auf dem Weg zu ihnen seid. Ich war offensichtlich nicht der Einzige, der falsche Hoffnungen geweckt und nützliche Lügen in den Mund genommen hatte, aber es blieb keine Zeit, mich meinen Gewissensbissen zu widmen.
Wenn ich nicht in jeweils gesonderten Sitzungen mit der Versammlung, dem Rat oder den Generälen tagte, saß ich mit ihnen allen auf einmal zusammen. General Draeger ergriff häufig das Wort, und da er der amtierende General der Hauptstadt war, hatte seine Stimme Gewicht. Er tat stets seine Meinung kund – als Botschaft an mich und jeden anderen, dass er die Dinge sehr genau im Auge behielt. Er war ruhig und entschlossen. Er würde mich für meine Abwesenheit bezahlen lassen.
Sie alle verspürten das Bedürfnis, diesen unerfahrenen König auf die Probe zu stellen, aber wie Sven mir geraten hatte, hörte ich zu, wog ab und handelte dann. Ich wollte mich nicht drängen lassen. Es war ein komplizierter Tanz, ein Geben und Nehmen, und wenn sie zu weit gingen, fuhr ich ihnen über den Mund. Ich fühlte mich an meinen Tanz mit Lia erinnert, als sie keinen Schritt zurück hatte machen wollen; sie hatte mit dem Fuß aufgestampft und war keinen Zoll gewichen.
Damals war mir aufgegangen, dass sie sich nicht weiter drängen lassen würde. Dass ich sie verlieren würde. Nein, Rafe, das hast du schon. Du hast sie verloren. Sie ist für immer fort. Es ist am besten so, rief ich mir in Erinnerung. Ich hatte ein aufgewühltes Königreich zu regieren, das meine ungeteilte Aufmerksamkeit forderte.
Als die Generäle sich gegen meinen ersten Befehl als König sperrten, behauptete ich mich und ließ sie wissen, dass diese Entscheidung nicht verhandelbar war. Ich ließ Verstärkung zu allen nördlichen Vorposten und all den schutzlosen Städten dazwischen schicken und die Truppen der südlichen Stützpunkte auf die östlichen und westlichen Grenzen verteilen. Es gärte im Reich, doch bis wir nicht das gesamte Ausmaß all dessen kannten, war dies eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Die Freiherren protestierten, dass zu wenige Schutztruppen in der Hauptstadt verbleiben würden.
»Aber zuerst müssen die Angreifer über die Grenze kommen«, entgegnete ich.
»Unsere Grenzen sind dank der Weitsicht Eures Vaters und seiner Ratgeber bereits gut abgesichert«, widersprach General Draeger. »Wollt Ihr nur aufgrund der Behauptungen eines einzigen unglaubwürdigen Mädchens das Königreich noch mehr zerrütten?«
Im Raum wurde es sofort mucksmäuschenstill. Das Wort unglaubwürdig kam dem General mit hundert Anspielungen über die Zunge. Gerüchte und Fragen über meine Beziehung zur Prinzessin hatten wie ein Flächenbrand in der Versammlung gewütet. Zweifellos wussten sie auch von unserer bitteren Trennung. Nun wagte es zum ersten Mal jemand, die Sprache auf sie zu bringen. Ein einziges Mädchen? Als wäre sie ein Niemand. Ohne Bedeutung und austauschbar. Es war ein weiterer Fehdehandschuh, der mir vor die Füße geworfen wurde. Eine Prüfung meiner Loyalität. Vielleicht lachten sie insgeheim darüber, dass ich sie meinen Truppen als meine künftige Königin präsentiert hatte. Während ich in diese Gesichter starrte, alle Blicke auf mich gerichtet, sah ich mich plötzlich durch Lias Augen, als ich etwas infrage gestellt hatte, an das sie so verzweifelt glaubte. Ich sah mich selbst als einen von ihnen. Rafe, hast du noch nie so ein tiefes Bauchgefühl gehabt?
Ich wollte den Köder des Generals nicht schlucken und auf keinen Fall über Lia sprechen. »Meine Entscheidung beruht auf dem, was ich beobachtet habe, General Draeger, und auf nichts anderem. Es ist meine Pflicht, für die Sicherheit der Bürger von Dalbreck und die Befriedung des Reichs zu sorgen. Bis wir neue Informationen erhalten, erwarte ich, dass meine Befehle ausgeführt werden. Unverzüglich.«
Der General zuckte die Achseln, und die Versammlung nickte widerwillig. Ich fühlte, dass sie alle mehr von mir wollten – sie gierten danach, dass ich Lia vor ihnen allen als morrighesische Verschwörerin brandmarkte, der man nicht trauen durfte. Sie erwarteten, dass ich ganz und gar wieder einer der Ihren wurde.
In aller Eile fand die Krönung statt, und endlich konnte der Scheiterhaufen zur Verbrennung des Leichnams meines Vaters errichtet werden. Er war seit Wochen tot. Man hatte seinen Körper einbalsamiert und mit Binden umhüllt; aber bis ich wieder aufgetaucht war, hatte man seinen Tod geheim halten müssen und ihn nicht standesgemäß den Göttern übergeben können.
Als ich die Fackel hob, um den Scheiterhaufen anzuzünden, fühlte ich mich sonderbar klein und als hätte ich die Götter besser verstehen müssen. Als hätte ich besser zuhören müssen. Es war nicht Svens Stärke gewesen, mich in spirituellen Dingen zu unterweisen. Das meiste hatte Merrick bei meinen seltenen Besuchen in der Kanterei übernehmen müssen. Ich erinnerte mich an Lias Frage, welche Götter ich anbetete. Ich war verlegen, fand keine Worte. Sie hatten tatsächlich Namen? Und es gab vier von ihnen, zumindest laut der morrighesischen Tradition. Merrick hatte mir erzählt, dass drei davon gemeinsam auf dem himmlischen Thron saßen und vom Rücken wilder Bestien aus die Tore des Himmels bewachten – wenn sie nicht gerade Sterne auf die Erde herabschleuderten. Es ist das Werk der Götter, dass Dalbreck allen anderen überlegen ist. Wir sind die begünstigten Verbliebenen.
Ich beobachtete, wie die Flammen das Leichentuch meines Vaters erfassten, wie sie den Stoff verzehrten und die aufgestapelten Holzscheite zusammenfielen, um die nackte Wirklichkeit des Todes zu offenbaren. Die Flammen leckten höher und höher, während ein ehrwürdiger Soldat und König diese Welt verließ und eine andere betrat. Ein ganzes Königreich sah zu; mir ebenso wie der Verbrennung. Das Gewicht jedes Blicks lastete voller Erwartung auf mir. Ich musste ihnen allen ein Beispiel an Stärke sein, als Versicherung, dass das Leben weitergehen würde. Ich stand zwischen der hoch aufragenden Steinsäule des alten Soldaten Minnaub auf der einen Seite und seinem ebenfalls steinernen, sich aufbäumenden Schlachtross auf der anderen. Es waren nur zwei von einem Dutzend gemeißelter Mahnmale, die den Platz hüteten – Schildwachen einer ruhmreichen Geschichte und eines der vielen Wunder Dalbrecks, die ich Lia hatte zeigen wollen.
Wenn sie mitgekommen wäre.
Mein Gesicht wurde heiß von der Gluthitze, aber ich wich nicht zurück. Lia, fiel mir ein, hatte erzählt, dass Capseius der Gott der Beschwerden sei, derjenige, gegen den ich in Terravin frech die Faust erhoben hatte. Wahrscheinlich sah er jetzt auf mich herab und lachte. Die Flammen knisterten und prasselten und zischten dem Himmel ihre geheimen Botschaften zu. Schwarzer Rauch stieg auf und breitete sich über dem Platz aus. Anstatt Gebete für die Toten zu sprechen, fiel ich auf die Knie und sprach sie für die Lebenden, und ich hörte das keuchende Raunen um mich her. Man staunte über diesen Dalbrecker König, der auf die Knie fiel.
Die Bestattung lag noch keine drei Tage zurück, als die Würdenträger aus dem Rat, Freiherren und andere Adlige begannen, bei Hofe zu erscheinen – praktischerweise gleich mit ihren heiratsfähigen Töchtern im Schlepptau. Sie überbrachten nichtssagende Botschaften, die auch bis zur nächsten Versammlung hätten warten können. »Ihr erinnert Euch doch noch an meine Tochter, oder?«, fragten sie, und dann stellten sie sie mir vor und zählten unverblümt all ihre Tugenden auf. Gandry, der Erste Minister und engste Berater meines Vaters, sah, wie ich die Augen verdrehte, nachdem ein Freiherr mit seiner Tochter eben wieder gegangen war. Er ermahnte mich, ich müsse trotz allem ernsthaft über eine Heirat nachdenken – und zwar rasch. »Es würde helfen, die Zweifler zum Schweigen zu bringen und Eure Regentschaft zu stabilisieren.«
»Es gibt immer noch Zweifler?«
»Ihr wart monatelang fort, ohne ein Wort zu hinterlassen.«
Seltsamerweise waren meine Gewissensbisse wegen meiner Abwesenheit wie weggeblasen. Bedauern, ja, so konnte man es nennen. Bedauern darüber, dass ich nicht hier gewesen war, als meine Eltern gestorben waren, und dass ich ihnen Sorgen bereitet hatte. Aber ich hatte getan, was kein Dalbrecker König oder General jemals vor mir getan hatte – ich hatte vendischen Boden betreten und einige Wochen bei diesem Volk gelebt. Es hatte mir ein einzigartiges Verständnis für die Denkart und die Bedürfnisse der Vendaner beschert und dafür, was sie antrieb. Vielleicht spürte ich deshalb die Unterstützung der Soldaten, wenn nicht sogar der höheren Ränge bei Hofe. Ich hatte mit nur fünf Soldaten einen Einsatz durchgeführt, der Tausende ausgebremst hatte. Es fühlte sich notwendig an, nicht gewagt, aber nun war es etwas ganz anderes, dieses Gefühl für den Rat und die Versammlung in eine messbare Größe zu übersetzen, die sie verstehen und anerkennen würden.
Ich schloss das Bestandsbuch auf meinem Schreibtisch und rieb mir die Augen. Die Schatzkammer war so leer wie noch nie. Morgen würde ich mit meinem Handelsminister losreiten müssen, um unsere wichtigsten Kaufleute und Bauern zu treffen, den Handel anzukurbeln und den Staatssäckel wieder zu füllen. Ich starrte auf den Ledereinband des Bestandsbuchs. Da war noch etwas anderes, das mich umtrieb – oder vielleicht waren es auch viele Dinge, jedes davon so flüchtig, dass ich es nicht einmal benennen konnte; sie zogen und zerrten mich in verschiedene Richtungen.
Das Zimmer erschien mir auf einmal beengend, und ich