Dem Horizont so nah - Kapitel 2
kostenloslesen.com uns herum gefüllt und ich konnte aufgrund des Stimmengewirrs ihre Unterhaltung nicht vollständig verstehen, aber es war offenkundig, dass sie nicht allein mit mir sein wollte.
Simon schaute etwas verloren in die Runde und hielt sich an seinem Bierglas fest.
„Wenn das so ist …“, sagte Danijel, schwang sein linkes Bein über die Bank und lehnte sich mit dem Rücken an den Biertisch. Interessiert beobachtete er die Menschen um uns herum. Mein Gehirn versuchte vergeblich, meine verbliebene Restintelligenz zusammenzuraffen und kramte irgendwo im hintersten Winkel des Wernicke-Zentrums nach meiner verloren gegangenen Sprache.
In diesem Moment fiel mir die fein gezackte Narbe in Danijels Gesicht auf. Sie war nur bei genauem Hinsehen zu erkennen, obwohl sie einmal quer über seine linke Wange lief.
„Was hast du denn da gemacht?“, fragte ich und zeigte auf seine Wange. Ich hätte mich ohrfeigen können, weil mir nichts Klügeres einfiel als diese viel zu persönliche Frage.
Zum Glück nahm er es gelassen.
„Du meinst das?“ Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Narbe. „Das war mein Vater. Hat mir mal eine Flasche ins Gesicht geschlagen.“
„Wie bitte?“ Meinte er das ernst?
Er lächelte, um seine Worte zu entschärfen. „Aus Versehen. Es war ein Unfall.“
„Trotzdem schlimm“, erwiderte ich. Ich war nicht in der Lage, mir vorzustellen, wie so etwas aus Versehen passieren konnte. Aber auf meinen Verstand war momentan ohnehin kein Verlass. Da hing immer noch ein großes „Außer Betrieb“-Schild davor.
Danijel zuckte mit den Schultern.
„Nicht schlimm“, sagte er. „Ich bin auch so schön genug.“
Arroganter Schnösel, dachte ich. Aber ich wusste, dass er Recht hatte. Da mir kein passender Kommentar einfiel, blieb ich stumm und konnte sehen, wie Danijel sich zu langweilen begann. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf zwei sehr attraktive blonde Mädchen mit hohen Schuhen und viel zu kurzen Röcken. Lange und intensiv sah er sie an, und ich warf einen hilfesuchenden, gereizten Blick zu Vanessa. Sie strahlte mich kurz an, ehe sie sich wieder Ricky zuwandte. Ich rollte die Augen.
Simon hatte die blonden Mädchen ebenfalls entdeckt.
„Das schaffst du nicht!“, rief er Danijel zu.
„Wetten, dass …?“, gab dieser zurück.
„Drei zu eins!“, sagte Simon und streckte die Hand über den Tisch. Ricky unterbrach sein Gespräch mit Vanessa, um ebenfalls die beiden Mädchen zu betrachten.
„Ich halte auch dagegen. Vier zu eins!“ Auch er streckte Danijel die Hand entgegen.
„Zwanzig Minuten.“ Danijel stand auf, schlug bei seinen beiden Freunden ein und ging auf die Mädchen zu. Fragend schaute ich Simon und Ricky an. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, albern zu grinsen, um es zu bemerken. Kurz überlegte ich, ein Gespräch mit Simon anzufangen. Bei ihm wären mir tausend Dinge eingefallen, die ich hätte sagen können, aber ich hatte keine Lust. Stattdessen suchten meine Augen Danijel, der inzwischen bei den Mädels stand und sich mit ihnen unterhielt. Sogar auf diese Entfernung konnte ich sehen, dass sie erröteten und nervös kicherten. Danijel legte um beide gleichzeitig jeweils einen Arm und zog sie außerhalb meines Sichtfeldes. Ich konnte nur den Kopf schütteln.
Was soll denn dieser kranke Mist?
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er zurück und knallte triumphierend eine weiße Karte auf den Tisch. „Beide!“, verkündete er stolz.
Ricky hob die Hände über den Kopf und klatschte dreimal. Simon pfiff anerkennend durch die Zähne und schob ihm ein Geldscheinbündel zu. Auch Ricky griff in die Tasche und legte einen Schein auf den Tisch. Danijel steckte die Scheine samt Karte ein und setzte sich wieder zu mir.
„Wo waren wir stehen geblieben?“, fragte er freundlich.
„Was zur Hölle macht ihr da eigentlich?“, fuhr ich ihn an.
„Wir spielen“, erklärte Danijel, „es nennt sich Nummernjagd. Spielen wir jedes Wochenende.“
„Wie lustig!“, bemerkte ich sarkastisch. Plötzlich tat mir Simon leid, denn es war offensichtlich, dass er Wochenende für Wochenende als Verlierer nach Hause ging. Aus einem Impuls heraus beschloss ich, Simon ungefragt meine Telefonnummer zu geben. Aber Danijel störte mein Vorhaben.
„Mir ist langweilig“, sagte er.
„Geh doch heim!“, blaffte ich ihn an und hoffte inständig, er würde es nicht tun.
„Ich hab eine bessere Idee, komm mit!“ Er sprang auf, packte mich am Handgelenk und zog mich von der Bank hoch. Die anderen schauten uns fragend an.
„Wo willst du hin?“ Ich musste fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten.
Vor dem Free-Fall-Tower blieb er stehen. „Da gehen wir jetzt rein“, ordnete er an. „Anschließend gibst du mir deine Telefonnummer.“
„Nein zu beidem!“, erwiderte ich trotzig und stemmte die Hände in die Hüften.
Er sah mich zärtlich an. „Du bist anders als die anderen“, stellte er fest. „Das gefällt mir.“
Oha. Mister Ich-krieg-alles-was-ich-Will braucht eine Abfuhr. Na, da ist er bei mir doch genau an der richtigen Adresse.
„Ich laufe mich eben erst warm“, konterte ich.
Leise lachend legte er mir den Arm um die Schultern und zog mich an sich. Seine Augen suchten meine und ich hatte das Gefühl, sie würden mich bis auf die Knochen durchbohren.
„Du. Gehst. Da. Jetzt. Mit. Mir. Rein.“ Danijel sprach jedes Wort wie einen einzelnen Satz. Er roch nach Duschgel und Aftershave. Meine Knie wurden weich.
„Okay“, stimmte ich zu.
Zum Teufel, wie macht er das nur?
Keine zwei Minuten später saß ich in diesem Höllengefährt und krallte mich verängstigt am Sicherheitsbügel fest. Es war mittlerweile dunkel und die Sicht über den beleuchteten Rummelplatz atemberaubend. Ganz oben blieb das Fahrgerät stehen, um den Menschen darin noch eine letzte Gnadenfrist zu gewähren.
„Hast du Angst?“, fragte Danijel mich.
„Ja, verdammt!“, fluchte ich und nahm mir fest vor, auf dem Weg nach unten nicht zu schreien.
Ich scheiterte kläglich und war heilfroh, einigermaßen unbeschadet aus dem Ding herauszukommen und festen Boden unter den Füßen zu haben.
„War‘s denn so schlimm?“ Seine Stimme klang mitfühlend.
„Ich werde dich ewig dafür hassen!“ Es gelang mir nicht ganz, diesen Satz glaubhaft auszusprechen.
Wir machten uns auf den Weg zurück zu den anderen, die bereits nach uns Ausschau hielten.
„Wir wollen in die Achterbahn“, empfing uns Vanessa. „Kommt ihr mit?“
„Gerne“, antwortete Danijel für mich und ich verdrehte die Augen.
In der Achterbahn nutzte ich die Gelegenheit, der neben mir sitzenden Vanessa ins Ohr zu raunen: „Lass uns verschwinden!“
„Wieso?“, fragte sie alarmiert.
„Nachher Toilette!“ Das war unser Code für: „Wir müssen dringend reden!“
Genervt folgte mir Vanessa anschließend in die Damentoilette, und ich atmete erleichtert auf, als wir endlich ungestört sprechen konnten.
„Was ist los?“, herrschte sie mich an, „da lerne ich einmal einen tollen Typen kennen, und dann willst du heim.“
„Bist du vollkommen verblödet? Die verarschen uns doch nur! Hast du gesehen, was die machen? Die baggern eine nach der anderen an. Das ist Volkssport bei denen!“
„Na und?“ Vanessa zuckte mit den Achseln. „Ich hab ja auch nicht gesagt, dass ich ihn heiraten will. Nur ein bisschen Spaß haben.“
„Du bist unmöglich!“
„Du bist spießig. Nun komm schon, du hast doch diesen Dennis oder wie er heißt. Er sieht umwerfend aus.“
„Er ist arrogant und überheblich und ich kann ihn nicht leiden.“
„Bitte. Nur noch eine Stunde“, flehte Vanessa, „dann müssen wir eh fast schon gehen, um die letzte Bahn zu erwischen.“
„Meinetwegen!“ Ich seufzte resigniert. „Eine Stunde. Dann gebe ich dir ein Zeichen und wir machen uns aus dem Staub.“
Verzweifelt hüstelte ich nun schon zum dritten Mal und fügte ein übertriebenes Räuspern hinzu. Aber Vanessa stellte sich taub.
„Frosch im Hals?“, fragte Danijel, der die ganze Zeit wie eine Klette an mir hing. Es war nicht so, dass er mir auf die Nerven ging. Vielmehr fühlte ich mich in seiner Gegenwart einfach nicht Herrin meiner Sinne. Ich tat Dinge, die ich eigentlich nicht tun wollte.
Ohne auf Danijels Kommentar einzugehen, lief ich an Vanessa vorbei ins Gedränge. Endlich hatte sie begriffen. Sie folgte mir – wenn auch widerwillig. Hastig schlug ich ein paar Haken, schob mich absichtlich durch das dichteste Gewühl. Hier auf dem überfüllten Volksfest verlor man einander ständig. Es würde ein Leichtes sein, ein paar Verfolger abzuhängen. Entschlossen nahm ich Vanessa an der Hand und schleifte sie hinter mir her.
„Das können wir doch nicht machen!“, schimpfte sie. Meine Entschlossenheit wandelte sich in Euphorie und ich blieb erst stehen, als wir den Ausgang erreicht hatten.
„Sind wir sie los?“, keuchte ich.
„Ja. Super Leistung!“ Vanessa war echt sauer. „Ich mag ihn. Was soll ich ihm sagen, warum wir einfach verschwunden sind?“
Ich lächelte selig. „Gar nichts. Den siehst du nie wieder!“
„Er hat versprochen, dass er mich anruft. Stell dir vor: Er ist beruflich manchmal in München und will mich dann besuchen kommen. Er ist Fernmeldetechniker und kommt viel herum.“
Wütend schlug ich meinen Handballen gegen die Stirn. „Du hast diesem arroganten Vogel deine Telefonnummer gegeben? Viel Spaß bei deiner Enttäuschung. Heul mich dann bloß nicht voll!“
„Werde ich nicht.“
Wir bogen in eine Fußgängerzone ein und gingen Richtung Haltestelle. Hier war es fast menschenleer.
„Ehrlich, Jessica! Mach dir keine Sorgen. Ich will nur etwas Spaß mit ihm haben.“
Vanessas Art, mit Männern Spaß zu haben, war mir bekannt. Ich beschleunigte meinen Schritt und ließ sie ein Stück weit hinter mir.
Das Auto hatte ich nicht kommen sehen. Es schien aus dem Nichts aufzutauchen und schoss mit völlig überhöhter Geschwindigkeit auf mich zu. Mit laut quietschenden Reifen und einer Neunzig-Grad-Drehung blieb der riesige, schwarze BMW quer über der Straße stehen und versperrte mir den Weg. Zu Tode erschrocken schnappte ich nach Luft und blieb vollkommen erstarrt stehen. Die Scheibe der Fahrerseite fuhr nach unten und Danijel lehnte sich aus dem Fenster.
„Hast du nicht etwas vergessen?“, fragte er süffisant und sah mich von unten nach oben durch seine bemerkenswert langen Wimpern an. Völlig perplex schüttelte ich den Kopf. Er streckte die flache Hand aus dem Auto. „Telefonnummer, bitte!“
„Gott im Himmel“, keifte ich ihn an. „Du hast echt ein Problem!“
„Stimmt“, bemerkte er trocken, „tut aber aktuell nichts zur Sache. Deine Nummer.“
„Wieso?“, wollte ich wissen. „Nur damit du deine dämliche Wette gewinnst?“
„Genau.“ Er grinste siegessicher.
„Vergiss es!“ Ich ging nach links um die Motorhaube. Er stieg aus, lief rechts um das Heck des Wagens und stellte sich mir in den Weg. Einige Wasen-Besucher verließen ebenfalls gerade das Fest und beschwerten sich lautstark über das unmöglich abgestellte Auto. Danijel ignorierte sie und sagte leise zu mir: „Wir können das bis morgen früh machen. Ich werde nicht locker lassen – irgendwann gibst du mir deine Nummer.“
Wortlos wollte ich an ihm vorbei, aber er hielt mich an der Schulter fest, legte Daumen und Zeigefinger seiner freien Hand unter mein Kinn und zwang mich, ihn anzuschauen. Wieder sah er mich mit der ganzen Kraft seiner ozeanblauen Augen an. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und in meinem Bauch zogen sich Muskeln zusammen, von denen ich bis dahin nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten.
Danijel legte den Kopf schief und beugte sich zu mir hinunter. Sein Geruch stieg mir in die Nase.
Nicht die Luft anhalten, Jessica, atme!
Erwartungsvoll öffnete ich die Lippen, schloss die Augen und streckte mich ihm entgegen. Er lachte leise in sich hinein und wich ein Stück zurück.
Ich kam mir vor wie eine Idiotin.
„Erst deine Telefonnummer“, hauchte er mir ins Ohr und zog sein Handy aus der Hosentasche.
Hauptsächlich, um der peinlichen Situation zu entkommen, nannte ich ihm meine Nummer. Triumphierend tippte er sie ins Handy und speicherte sie ab.
„Danke sehr“, sagte er übertrieben höflich und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Dann ließ er mich einfach stehen, setzte sich ins Auto und startete den dröhnenden Motor. Die Rückfahrscheinwerfer leuchteten auf, der BMW setzte ein Stück zurück und blieb neben mir noch einmal stehen. Danijel hielt eine weiße Visitenkarte aus dem Fenster.
„Damit es fair bleibt“, erklärte er.
Ergeben nahm ich die Karte. „Wozu?“, fragte ich, „du wirst mich doch sowieso nicht anrufen. Und ich werde dich ganz sicher auch nicht anrufen!“, fügte ich trotzig hinzu.
Er ließ die Scheibe bereits wieder hoch.
„Ich werde dich anrufen“, sagte er sanft. „Versprochen.“
Die Reifen quietschten, als er den Wagen viel zu schnell rückwärts aus der Anliegerstraße fuhr. Ich weiß nicht, wie lange ich vollkommen verloren dastand und den Scheinwerfern hinterherstarrte, als ich hinter mir ein Räuspern vernahm.
Vanessa hatte die Hände in die Hüften gestemmt und tippte mit der Fußspitze auf den Asphalt.
Wie lange stand sie da schon?
„So …“, sagte sie triumphierend. „Ich bin also bescheuert, weil ich irgendeinem arroganten Vogel meine Telefonnummer gegeben habe, ja?“
Hilflos zuckte ich die Schultern. „Ich kann nichts dafür, ehrlich. Ich glaube, er hat mich hypnotisiert!“
5. November 1999
Tagsüber wurde mein Handy zu meinem größten Feind, nachts träumte ich von blauen Augen, die mich verfolgten, um mich mit ihrer ganzen Intensität zu durchdringen. Die