Das verlorene Symbol - Kapitel 91
Augen seines Sohnes nach einer Verbindung suchte … irgendetwas Vertrautem. Doch die Augen des Mannes, so grau wie seine eigenen, waren die eines vollkommen Fremden, erfüllt von einem Hass und einer Rachsucht, die nicht von dieser Welt zu sein schienen.
»Bist du stark genug?«, höhnte sein Sohn mit einem Blick auf das Opfermesser in Peters Hand. »Stark genug, um zu beenden, was du vor all den Jahren angefangen hast?«
»Zach … mein Sohn …« Solomon erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. »Ich habe dich geliebt.«
»Zwei Mal hast du versucht, mich umzubringen. Im Gefängnis hast du mich im Stich gelassen. Und auf Zachs Brücke hast du auf mich geschossen. Jetzt bring es zu Ende!«
Für einen Moment hatte Solomon das Gefühl, aus seinem Körper zu schweben. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Er hatte eine Hand verloren, war völlig kahl, in ein schwarzes Gewand gekleidet und saß in einem Rollstuhl. Und er umklammerte einen uralten Dolch.
»Bring es zu Ende!«, brüllte der hünenhafte Mann zum wiederholten Mal, und die Tätowierungen auf seiner nackten Brust zuckten. »Das ist deine einzige Chance, Katherine zu retten … die einzige Chance, dass deine Bruderschaft überlebt!«
Solomon spürte, wie sein Blick zu dem Laptop und dem Mobiltelefon auf dem lederbezogenen Stuhl schweifte.
NACHRICHT WIRD GESENDET: 92 % ABGESCHLOSSEN
Es gelang ihm nicht, die Bilder der verblutenden Katherine aus seinem Kopf zu verbannen … oder die Angst um seine Freimaurerbrüder.
»Noch ist Zeit«, flüsterte der Tätowierte. »Es ist deine einzige Chance. Deine einzige Wahl. Befreie mich von meiner sterblichen Hülle.«
»Bitte …«, flüsterte Solomon. »Tu das nicht …«
»Du hast es getan!«, zischte der Hüne. »Du hast deinen eigenen Sohn gezwungen, eine unmögliche Wahl zu treffen! Erinnerst du dich an jenen Abend? Reichtum oder Weisheit? Das war der Abend, an dem du mich verstoßen hast! Doch ich bin zurückgekehrt, Vater … und heute Nacht hast du die Wahl: Zachary oder Katherine. Wer soll es sein? Wirst du deinen eigenen Sohn töten, um deine Schwester zu retten? Wirst du deinen Sohn töten, um deine Bruderschaft zu retten? Dein Land? Oder wirst du warten, bis es zu spät ist? Bis Katherine tot ist … bis das Video an die Öffentlichkeit gelangt? Bis du den Rest deines Lebens in dem Wissen verbringen musst, dass du allein diese Tragödien hättest verhindern können? Die Zeit läuft ab, Vater. Du weißt, was du zu tun hast.«
Peter Solomons Herz krampfte sich zusammen. Du bist nicht Zachary, sagte er sich immer wieder. Zachary ist vor langer Zeit gestorben. Was immer du bist, woher du auch kommst … du bist nicht mein Sohn. Wenngleich Peter Solomon seinen eigenen Worten nicht glaubte, so wusste er doch, dass er die Entscheidung nicht länger aufschieben konnte.
Die Zeit war abgelaufen.
Ich muss die Große Treppe finden!
Durch die dunklen Hallen und Korridore rannte Langdon immer tiefer ins Innere des Gebäudes. Turner Simkins blieb ihm dicht auf den Fersen. Wie Langdon gehofft hatte, erreichten sie nach kurzer Zeit den großen Innenhof.
Das Atrium mit seinen acht dorischen Säulen und den schwarzen Marmorstatuen, den Feuerschalen und teutonischen Kreuzen sah aus wie eine gewaltige Grabkammer voller doppelköpfiger Phönixe, erhellt von Wandleuchtern mit Hermesköpfen.
Langdon rannte zu der weiten, geschwungenen Marmortreppe am anderen Ende des Atriums. »Sie führt direkt nach oben in den Tempelsaal«, flüsterte er. Die beiden Männer eilten die Stufen hinauf, so schnell und leise sie konnten.
Auf dem ersten Absatz stand Langdon unvermittelt vor einer lebensgroßen Bronzebüste des bedeutenden Freimaurers Albert Pike. Auf dem Sockel war Pikes berühmtester Ausspruch eingemeißelt: Was wir für uns allein getan haben, stirbt zusammen mit uns – was wir für andere und die Welt getan haben, bleibt bestehen und ist unsterblich.
Mal’akh spürte, wie die Atmosphäre im Tempelsaal sich veränderte, als hätten sich alle Hoffnungslosigkeit, aller Schmerz Peter Solomons schlagartig Bahn gebrochen und konzentrierten sich nun wie ein Laserstrahl auf Mal’akh.
Ja, es ist Zeit.
Peter Solomon hatte sich aus seinem Rollstuhl erhoben und stand vor dem Altar, das Messer in der Faust.
»Rette deine Schwester«, beschwor Mal’akh den Mann, der sein Vater gewesen war, wobei er vor ihm zurückwich und ihn zum Altar lockte. Dort angekommen, legte er sich auf das von ihm selbst vorbereitete weiße Leichentuch. »Tu, was du tun musst.«
Solomon bewegte sich Zentimeter um Zentimeter voran. Er fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen.
Mal’akh legte sich nun ganz zurück und starrte zum Deckenfenster und dem am Himmel leuchtenden Wintermond hinauf. Das Geheimnis liegt darin, wie man stirbt, dachte er. Der Augenblick konnte vollkommener nicht sein. Geschmückt mit dem Verlorenen Wort der Alten biete ich mich an als Opfer, hingestreckt durch die linke Hand meines Vaters.
Mal’akh atmete tief ein.
Empfangt mich, Dämonen, denn dies ist mein Leib, den ich für euch hingebe.
Peter Solomon verharrte zitternd über Mal’akh. In seinen tränennassen Augen standen Qual, Verzweiflung, Unentschlossenheit. Er warf einen letzten Blick durch den Raum zu dem Laptop mit dem Modem.
»Triff deine Wahl«, flüsterte Mal’akh. »Erlöse mich von meinem Fleisch. Gott will es so. Du willst es so.« Er legte die Arme an die Seiten, wölbte die Brust vor und bot Solomon den prachtvollen, doppelköpfigen Phönix dar. Hilf mir, den Leib abzustreifen, der meine Seele gefangen hält.
Peter Solomons tränenverschleierter Blick schien durch Mal’akh hindurchzugehen.
»Ich habe deine Mutter getötet!«, flüsterte Mal’akh. »Ich habe deinen Freund Langdon getötet! Ich werde deine Schwester töten, und ich vernichte deine Bruderschaft! Tu, was du tun musst!«
Peter Solomons Gesicht verzerrte sich zu einer Maske unsäglicher Trauer und unendlichen Bedauerns. Er warf den Kopf in den Nacken und stieß einen gequälten Schrei aus.
Dann hob er das Messer.
Robert Langdon und Agent Simkins erreichten genau in dem Augenblick atemlos die Türen des Tempelsaals, als aus dem Innern ein grauenerregender Schrei drang. Es war Peters Stimme, da gab es für Langdon keinen Zweifel.
Es war ein Schrei unaussprechlicher Qual.
Wir kommen zu spät!
Er ignorierte Simkins und riss die Türen weit auf. Das entsetzliche Schauspiel vor seinen Augen bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Dort, in der Mitte des schwach erleuchteten Saals, stand direkt vor dem Altar die Silhouette einer Gestalt mit kahlrasiertem Schädel. Die Gestalt war in ein schwarzes Gewand gehüllt und hielt einen großen Dolch in der erhobenen Faust.
Bevor Langdon reagieren konnte, fuhr die Faust mit dem Dolch auf das Opfer nieder, das ausgestreckt auf dem Altar lag.
Mal’akh schloss die Augen.
So wunderbar. So vollkommen.
Die Klinge des Opfermessers hatte im Mondlicht über ihm gefunkelt. Weihrauch war aus den Gefäßen aufgestiegen und hatte den Weg für seine Seele gewiesen, die der Befreiung harrte. Der einsame, gequälte Verzweiflungsschrei seines Erlösers hallte noch immer durch den heiligen Saal, als die Klinge herabfuhr.
An mir kleben elterliche Tränen und das Blut des Menschenopfers.
Mal’akh wappnete sich für den wunderbaren Augenblick, an dem die Klinge in sein Fleisch eindringen würde.
Den Augenblick der letzten Transformation.
Es war unvorstellbar, doch er spürte nicht den geringsten Schmerz.
Stattdessen erfüllten donnernde Vibrationen seinen Leib, tief und ohrenbetäubend. Der gesamte Saal erbebte, und von oben schien ein strahlend weißes Licht herab. Die Himmel tosten.
Mal’akh wusste, dass es geschehen war.
Genau wie er es geplant hatte.
Langdon wusste nicht mehr, wie er zum Altar gekommen war, oder wann der Hubschrauber über ihnen allen erschien. Er erinnerte sich nicht mehr, wie er mit ausgestreckten Armen vorgesprungen war … auf den Mann in der schwarzen Robe zu … in dem verzweifelten Versuch, ihn wegzustoßen, ehe das Messer ein zweites Mal auf das Opfer herniederfahren konnte.
Ihre Leiber waren zusammengeprallt, und dann war gleißendes weißes Licht durch das Deckenfenster auf den Altar gefallen und hatte den Saal erhellt.
Langdon erwartete, den blutigen Leichnam Peter Solomons auf dem Altar zu sehen, doch die nackte Brust im grellen Licht war unversehrt … eine Landschaft voller Tätowierungen. Das Messer lag zerbrochen daneben. Offensichtlich hatte die schwarze Gestalt es gegen den Stein des Altars gerammt anstatt in das Fleisch des Opfers.
Langdon und der Mann in der Robe schlugen auf dem harten Boden auf. Im selben Moment sah Langdon den bandagierten Stummel am Ende des rechten Unterarms seines Gegners. Fassungslos erkannte er, dass er soeben Peter Solomon zu Boden gestoßen hatte.
Die beiden Männer rutschten über den glatten Stein, während der Suchscheinwerfer des Hubschraubers die Szenerie in grelles Licht tauchte. Der Black-Hawk schwebte so tief über dem Glasdach, dass er beinahe die Paneele berührte.
Auf der Unterseite des Helikopters rotierte eine merkwürdig aussehende Waffe und zielte durch die Scheibe in den Saal. Ein roter Laserpunkt tanzte über die Fliesen, bewegte sich auf Langdon und Solomon zu.
Nein!
Doch niemand eröffnete das Feuer. Nichts war zu hören außer dem tosenden Lärm der Rotorblätter.
Langdon spürte ein eigenartiges Aufwallen von Energie, die all seine Zellen zu erfassen schien. Der Laptop hinter ihm auf dem Stuhl zischte und fauchte. Langdon fuhr herum und sah gerade noch, wie der Bildschirm des kleinen tragbaren Computers schwarz wurde. Unglücklicherweise war die letzte Meldung deutlich zu erkennen gewesen.
NACHRICHT WIRD GESENDET: 100 % ABGESCHLOSSEN
Hoch, verdammt noch mal! Hoch mit der Kiste!
Der Pilot des Black-Hawk gab sämtlichen Schub auf die Rotoren, um nicht mit den Kufen das gläserne Kuppeldach zu berühren. Er wusste, dass die dreitausend Kilogramm Auftrieb, die der Luftstrom unter den Rotoren erzeugte, die Konstruktion bereits bis an die Grenzen belasteten. Unglücklicherweise sorgten die Schrägen der Pyramide dafür, dass fast der gesamte Auftrieb seitlich abgeleitet wurde.
Hoch! Schneller!
Der Pilot kippte die zyklische Blattverstellung und versuchte abzudrehen, doch die linke Kufe streifte das Glas in der Mitte des Dachs. Es war nur ein winziger Moment, doch er genügte.
Das große Deckenfenster des Tempelsaals explodierte in einem Wirbel aus Glas und Sturmwind und jagte einen Schauer gläserner Dolche in den darunter liegenden Raum.
Sterne, die vom Himmel fallen.
Mal’akh starrte hinauf in das wundervolle weiße Licht und bemerkte den Schleier aus glänzenden Juwelen, der herniederströmte, immer schneller, um ihn zu umfangen, als