Das verlorene Symbol - Kapitel 89
Heredom stand, blickte Mal’akh auf den Schatz, den er in all den Jahren gesucht hatte, und wusste, dass er sich nicht besser darauf hätte vorbereiten können.
Bald bin ich vollendet.
Das Verlorene Wort ist gefunden.
In Kalorama Heights stand ein einsamer CIA-Agent allein in einem Meer aus Müll, der aus den Abfalltonnen entleert worden war, die in der Garage gestanden hatten.
»Miss Kaye?«, sprach er ins Telefon. »Gute Idee, den Müll zu durchsuchen. Ich glaube, ich habe gerade etwas gefunden.«
Katherine Solomon fühlte sich mit jeder verstreichenden Sekunde kräftiger. Die Infusion hatte ihren Blutdruck erhöht und den hämmernden Kopfschmerz besänftigt. Sie ruhte nun, saß mit der ausdrücklichen Anweisung, sich zu schonen, im Esszimmer und hoffte – von Minute zu Minute besorgter – auf Nachrichten über ihren Bruder.
Wo sind denn alle? Das Spurensicherungsteam der CIA war noch nicht eingetroffen, und der Agent, der zurückgeblieben war, suchte das Grundstück ab. Bellamy hatte mit Katherine im Esszimmer gesessen, in eine Decke gehüllt, doch auch er war schließlich gegangen, um nach Informationen zu suchen, die der CIA vielleicht helfen konnten, Peter zu retten.
Katherine hatte es satt, untätig herumzusitzen. Sie stemmte sich hoch, schwankte einen Moment und ging dann langsam zum Wohnzimmer. Sie fand Bellamy im Büroraum. Der Architekt des Kapitols stand mit dem Rücken zu ihr an einer geöffneten Schublade und war offenbar so sehr in deren Inhalt vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie Katherine hereinkam.
Als sie ihn ansprach, zuckte der alte Mann zusammen und wandte sich um. Dabei verschloss er mit einer Bewegung der Hüfte rasch die Schublade. Sein Gesicht zeigte Schock und Trauer; seine Wangen waren tränenüberströmt.
»Was ist passiert?« Katherine blickte zu der Schublade. »Was haben Sie gefunden?«
Bellamy schien es die Sprache verschlagen zu haben. Er wirkte wie jemand, der gerade etwas zu Gesicht bekommen hatte, das er nie im Leben hatte sehen wollen.
»Was ist in der Schublade?«, drängte Katherine.
Mit tränennassen Augen blickte Bellamy sie traurig an. Schließlich sagte er: »Sie und ich, wir haben uns gefragt, wieso dieser Mann Ihre Familie so hasst.«
Katherine runzelte die Stirn. »Ja?«
»Ich fürchte …« Bellamy stockte die Stimme. »Ich habe soeben die Antwort gefunden.«
KAPITEL 119
Im Haus des Tempels stand der Mann, der sich Mal’akh nannte, vor dem großen Altar unter der Kuppel und rieb mit der Hand sanft die jungfräuliche Stelle oben auf seinem Kopf. Verbum significatum, skandierte er in Vorbereitung auf die Zeremonie. Verbum omnificum. Das letzte fehlende Element war endlich gefunden worden.
Die wertvollsten Dinge sind oft die einfachsten.
Über dem Altar wirbelten dünne Weihrauchschwaden. Wie in Zeitlupe stiegen sie im Licht des Mondes aus dem Räuchergefäß gen Himmel und reinigten den Schacht, durch den die befreite Seele ungehindert würde aufsteigen können.
Die Zeit war gekommen.
Mal’akh nahm die Phiole mit Peters dunklem Blut und entkorkte sie. Unter den Blicken seines Gefangenen tauchte er die Spitze der Krähenfeder in die purpurne Tinktur und führte sie zu dem heiligen Kreis auf seiner Kopfhaut. Er hielt einen Moment inne … dachte daran, wie lange er auf diesen Moment gewartet hatte. Seine große Transformation stand endlich bevor. Wenn das Verlorene Wort dem Geist des Menschen eingeschrieben wird, ist es ihm gegeben, unvorstellbare Macht zu empfangen. So lautete seit jeher das Versprechen der Apotheose. Bisher hatte die Menschheit dieses Versprechen nicht zu begreifen vermocht, und Mal’akh hatte alles darangesetzt, dass es so blieb.
Mit ruhiger Hand setzte er die Spitze der Feder auf seine Haut. Er brauchte keinen Spiegel, keine Hilfe – nur seinen Tastsinn und sein inneres Auge. Langsam und mit größter Sorgfalt begann er das Verlorene Meisterwort in den kreisförmigen Ouroboros auf seiner Kopfhaut zu schreiben.
Peter Solomon beobachtete ihn mit einem Gefühl namenlosen Entsetzens.
Als Mal’akh fertig war, schloss er die Augen, legte die Feder beiseite und atmete tief aus, bis alle Luft aus seiner Lunge gewichen war. Ein Gefühl, wie er es nie zuvor verspürt hatte, breitete sich in seinem Innern aus.
Ich bin vollendet.
Ich bin eins.
Jahrelang hatte Mal’akh an dem Werkzeug gearbeitet, das sein Körper war. Nun, im erhabenen Augenblick seiner letzten Transformation, spürte er jede einzelne Linie, die in sein Fleisch gezeichnet worden war. Ich bin ein wahres Meisterwerk. Vollkommen und vollendet.
»Ich habe Ihnen gegeben, was Sie wollten.« Peters Worte drangen in seine Gedanken. »Schicken Sie Katherine Hilfe. Und stoppen Sie diese Übertragung.«
Mal’akh öffnete die Augen und lächelte. »Wir beide sind noch nicht fertig miteinander.« Er drehte sich zum Altar um, ergriff das Opfermesser und prüfte die Schärfe der glänzenden Klinge mit dem Finger. »Dieses alte Messer wurde von Gott selbst in Auftrag gegeben«, sagte er, »um als Werkzeug bei einem Menschenopfer zu dienen. Sie haben es doch sicher schon erkannt, nicht wahr?«
Solomons graue Augen verrieten keinerlei Regung. »Es ist einzigartig, und ich kenne die Legende.«
»Legende? Die Geschichte steht in der Heiligen Schrift. Sie glauben nicht, dass sie wahr ist?«
Peter starrte ihn nur an.
Mal’akh hatte ein Vermögen ausgegeben, um dieses Artefakt ausfindig zu machen und in seinen Besitz zu bringen. Man nannte es das Akedah-Messer, und es war vor mehr als dreitausend Jahren aus dem Metall eines Meteoriten geschmiedet worden, der auf die Erde gestürzt war. Eisen vom Himmel, wie die alten Mystiker es nannten. Angeblich handelte es sich um das Messer, das Abraham bei der Akedah benutzte – der Beinahe-Opferung seines Sohnes Isaak auf dem Berge Moria, wie sie im Buch Genesis beschrieben wird. Die erstaunliche Legende des Messers besagte, dass es sich in späteren Zeiten im Besitz von Päpsten, Nazi-Mystikern, europäischen Alchimisten und privaten Sammlern befunden hatte.
Sie haben das Messer behütet und bewundert, dachte Mal’akh, aber niemand hat es gewagt, seine wahren Kräfte freizusetzen und es seiner wahren Bestimmung zuzuführen. Heute Nacht würde das Opfermesser sein Schicksal erfüllen.
Innerhalb des Freimaurerritus war die Akedah stets heilig gewesen. Schon im ersten Grad verneigten sich die Freimaurer vor dem ›größten Geschenk, das der Mensch Gott je darbot … der Unterwerfung Abrahams unter den Willen des Höchsten Wesens, indem er bereit war, seinen erstgeborenen Sohn Isaak zu opfern …‹
Mal’akh spürte die Erregung, die das Messer in seiner Hand auslöste, als er sich hinunterbeugte und mit der frisch geschärften Klinge die Stricke durchschnitt, die Peter an den Rollstuhl fesselten. Die Stricke fielen zu Boden.
Schmerz durchzuckte Peter Solomon, als er versuchte, seine verkrampften Gliedmaßen zu bewegen. »Was haben Sie vor? Wozu soll das alles gut sein?«
»Das sollten Sie doch am ehesten verstehen«, erwiderte Mal’akh. »Sie haben die alten Gebräuche studiert. Sie wissen, dass ein Opfer nötig ist, um die Macht der Mysterien freizusetzen … dass eine menschliche Seele von ihrem Körper befreit werden muss. So war es von Anfang an.«
»Sie haben keine Ahnung von Opfern«, sagte Peter, und seine Stimme bebte vor Wut, Abscheu und Schmerz.
Ausgezeichnet, dachte Mal’akh. Nähre deinen Hass. Es wird alles leichter machen.
Mal’akh ging vor seinem Gefangenen auf und ab. Sein leerer Magen knurrte. »Dem Vergießen menschlichen Blutes wohnt eine ungeheure Kraft inne. Das ist seit Urzeiten bekannt. Die frühen Ägypter wussten es, die keltischen Druiden, die Chinesen und Azteken. Im Menschenopfer liegt eine magische Kraft. Der moderne Mensch aber ist zu schwach geworden. Er fürchtet sich davor, wahre Opfer zu bringen, und wagt es nicht, das Leben hinzugeben, wie es sein muss, um die spirituelle Transformation zu vollenden. Die alten Texte lassen keinen Zweifel daran. Nur indem man opfert, was einem am Heiligsten ist, kann man die höchste Macht erlangen.«
»Sie halten mich für ein wertvolles Opfer?«
Mal’akh musste laut lachen. »Sie verstehen noch immer nicht, oder?«
Peter starrte ihn verwirrt an.
»Wissen Sie, warum ich einen Deprivationstank in meinem Haus habe?« Mal’akh stemmte die Hände in die Hüften und dehnte seinen tätowierten Körper. »Ich habe trainiert … mich vorbereitet … den Augenblick herbeigesehnt, an dem ich nur noch Geist bin … an dem ich diese sterbliche Hülle abwerfe … an dem ich das Opfer darbringe und den Göttern diesen wunderschönen Körper zum Geschenk mache. Ich bin der Kostbare. Ich bin das reine weiße Lamm!«
Peters Mund öffnete sich, doch er brachte kein Wort hervor.
»Ja, Peter, wir müssen den Göttern opfern, was uns am Teuersten ist. Unseren wertvollsten Besitz. Sie, Peter, sind nicht wertvoll. Sie sind es nicht wert, geopfert zu werden.« Mal’akh starrte ihn an. »Verstehen Sie denn nicht? Sie sind nicht das Opfer, Peter … Ich bin es! Mein Fleisch wird dargebracht. Ich bin das Geschenk, die Gabe. Schauen Sie mich an. Ich habe mich vorbereitet, habe alles getan, auf dass ich würdig bin, die letzte Reise anzutreten. Ich bin die Opfergabe!«
Peter wusste noch immer nicht, was er sagen sollte.
»Das Geheimnis liegt darin, wie man stirbt«, fuhr Mal’akh fort. »Freimaurer verstehen das.« Er deutete auf den Altar. »Ihr folgt den alten Wahrheiten, und dennoch seid ihr Feiglinge. Ihr wisst, welche Macht in der Darbringung eines Opfers liegt; dennoch distanziert ihr euch vom Tod und vollzieht eure merkwürdigen Scheinmorde und unblutigen Todesrituale. Heute Nacht wird euer Altar seiner wahren Bestimmung zugeführt.«
Mal’akh bückte sich, packte Peter Solomons linken Arm und drückte ihm das Opfermesser in die Hand. Die linke Hand, die Dienerin der Dunkelheit. Auch dies war alles so geplant. Peter würde keine Wahl haben. Mal’akh konnte sich kein größeres, kein symbolischeres Opfer vorstellen als das, was heute Nacht auf diesem Altar von diesem Mann mit diesem Messer vollzogen werden würde. Und das Fleisch, die sterbliche Hülle, in die das Messer sich bohren würde, war wie ein Geschenk geschmückt, gehüllt in ein Leichentuch mystischer Symbole.
Mit diesem Opfer seiner selbst würde Mal’akh sich in der Hierarchie der Dämonen einen festen Platz sichern. Dunkelheit und Blut – dort lag die wahre Macht. Die Alten hatten es gewusst, und die Adepten hatten je nach Veranlagung ihre Seite der Macht gewählt. Mal’akh hatte weise entschieden. Chaos war das natürliche Gesetz