Das verlorene Symbol - Kapitel 83
die Schwärze des Alls und brannte sich in seinen Kopf.
Das Licht war überall.
Dann erschien in der strahlenden Wolke vor ihm eine wunderschöne Silhouette. Ein Gesicht war es … verschwommen und undeutlich … zwei Augen, die ihn durch die Leere anschauten. Licht umwaberte das Gesicht. Langdon fragte sich, ob er in das Antlitz Gottes schaute.
Sato starrte in den Tank. Ob Robert Langdon auch nur halbwegs begriff, was geschehen war? Sie bezweifelte es. Letzten Endes war Desorientierung ja Sinn und Zweck des Verfahrens.
Deprivationstanks, in denen den Sinnen sämtliche äußeren Reize entzogen wurden, gab es seit den Fünfzigerjahren, und sie standen bei New-Age-Experimentatoren noch immer hoch im Kurs. Das ›Floating‹, wie es genannt wurde, bot eine transzendente Zurück-in-den-Mutterschoß-Erfahrung, eine Meditationshilfe, welche die Hirnaktivität dämpfte, indem sie sämtliche Sinnesreize ausschaltete: Licht, Schall, Berührung, sogar den Zug der Schwerkraft. In althergebrachten Tanks trieb der Proband auf dem Rücken in einer Kochsalzlösung, die dem Körper überstarken Auftrieb verlieh und das Gesicht des Probanden über Wasser hielt, sodass er atmen konnte.
In den letzten Jahren allerdings hatte die Entwicklung dieser Tanks einen Quantensprung vollzogen.
Das Stichwort lautete sauerstoffgesättigte Perfluorcarbone.
Die neue Technik, bekannt als vollständige Flüssigkeitsbeatmung – Total Liquid Ventilation (TLV) – widersprach den Erfahrungen des tägliches Lebens so sehr, dass nur wenige Menschen an ihre Existenz glaubten. Atembare Flüssigkeit.
Flüssigkeitsbeatmung gab es seit 1966, als Leland C. Clark eine Maus noch stundenlang am Leben erhalten konnte, nachdem er sie in einem sauerstoffgesättigten Perfluorcarbon versenkt hatte. 1989 wurde die TLV-Technik auf dramatische Weise in dem Spielfilm The Abyss gezeigt, doch nur wenigen Zuschauern war klar gewesen, dass diese Methode technisch längst umgesetzt werden konnte.
Vollständige Flüssigkeitsbeatmung war aus dem Bemühen der modernen Medizin entstanden, Frühchen das Atmen zu erleichtern, indem man die Neugeborenen gleichsam in die von Flüssigkeit erfüllte Umgebung der Gebärmutter zurückversetzte. Für einen Säugling, der bis zu neun Monate in utero verbracht hatte, war eine flüssigkeitsgefüllte Lunge nichts Ungewohntes. Die frühen Perfluorcarbone waren zu zäh, zu viskos gewesen, um volle Atmung zu ermöglichen, doch weitere Forschungen hatten atembare Substanzen hervorgebracht, die fast so dünnflüssig waren wie Wasser.
Das Directorate of Science and Technology der CIA – die ›Zauberer von Langley‹, wie man sie in der Geheimdienstszene nannte – hatte intensiv mit Perfluorcarbonen gearbeitet, um Verfahren für das US-Militär zu entwickeln. Die Kampftaucher der Navy hatten festgestellt, dass sie mit sauerstoffgesättigten Flüssigkeiten statt des üblichen Heliox oder Trimix in größere Tiefen vordringen konnten, ohne sich dem Risiko der Dekompressionskrankheit auszusetzen. Ähnlich hatten Experimente der NASA und der Air Force ergeben, dass Besatzungen mit Flüssigkeitsatemgeräten anstelle der herkömmlichen Sauerstoffmasken höhere Beschleunigungskräfte ertragen konnten, weil die Flüssigkeit die Andruckkräfte besser auf die inneren Organe verteilte, als eine Gasumgebung es vermochte.
Sato hatte gehört, dass es inzwischen ›Extremerfahrungslabors‹ gab, in denen man TLV-Tanks ausprobieren konnte – ›Meditationsmaschinen‹ wurden sie genannt. Dieser spezielle Tank war vermutlich für private Experimente seines Eigentümers installiert worden, auch wenn das Vorhandensein schwerer, abschließbarer Riegel für Sato nur wenig Zweifel daran ließ, dass der Tank auch für moralisch äußerst zweifelhafte Anwendungen gedacht war … für Verhörtechniken etwa, die man bei der CIA gut kannte.
Die berüchtigte Verhörmethode des Waterboarding war deshalb so hochwirksam, weil das Opfer tatsächlich zu ertrinken glaubte. Sato wusste von mehreren Geheimoperationen, bei denen Deprivationstanks eingesetzt worden waren, um die Illusion auf neue, erschreckende Höhen zu treiben. Ein Opfer, das man in eine atembare Flüssigkeit tauchte, konnte im Sinne des Wortes ›ertränkt‹ werden. Die Panik des Ertrinkens ließ das Opfer in der Regel nicht erkennen, dass die Flüssigkeit, in die es getaucht wurde, ein wenig viskoser war als Wasser. Strömte diese Flüssigkeit in die Lunge, wurde der Betreffende häufig bewusstlos vor Furcht und erwachte dann in völliger ›Isolation‹.
Lokal wirkende Betäubungsmittel, lähmende Wirkstoffe und Halluzinogene, die in der warmen sauerstoffgesättigten Flüssigkeit aufgelöst wurden, verstärkten bei dem Betroffenen den Eindruck, sein Geist habe sich vollständig vom Körper gelöst. Wenn sein Hirn Befehle aussandte, Gliedmaßen zu bewegen, geschah nichts. War der Eindruck, tot zu sein, für sich genommen bereits furchteinflößend, konnte die wahre Desorientierung durch den Vorgang der ›Wiedergeburt‹, wenn man dabei helles Licht, kalte Luft und ohrenbetäubenden Lärm zu Hilfe nahm, überaus traumatisch und schmerzhaft wirken. Nach einer Reihe von ›Wiedergeburten‹ und anschließenden ›Ertrinkungstoden‹ verlor der Betroffene so sehr die Orientierung, dass er nicht mehr wusste, ob er lebte oder tot war … und konnte einem Verhörenden rein gar nichts mehr sagen.
Sato fragte sich, ob sie auf einen Notarzt warten sollte, ehe sie Langdon aus dem Tank holte, doch sie wusste, dass ihr die Zeit fehlte. Ich muss wissen, was er weiß.
»Schalten Sie das Licht aus«, befahl sie. »Und holen Sie mir ein paar Decken.«
Die blendende Sonne war fort. Auch das Gesicht war verschwunden.
Die Schwärze war zurückgekehrt, doch Langdon hörte jetzt fernes Flüstern, das über die endlose Leere hinweg zu ihm drang. Gedämpfte Stimmen … unverständliche Worte. Er spürte Schwingungen … als wollte die Welt auseinanderbrechen.
Dann geschah es.
Ohne Vorwarnung wurde das Universum entzweigerissen. Ein gewaltiger Spalt öffnete sich in der Leere, als wäre das All an seinen Rändern aufgebrochen. Gräulicher Nebel quoll durch die Öffnung, und Langdon sah etwas Angsteinflößendes. Körperlose Hände griffen nach ihm, packten ihn und wollten ihn aus der Welt zerren.
Nein! Er versuchte sie abzuwehren, doch er hatte keine Arme … keine Fäuste. Oder doch? Plötzlich spürte er, wie um seinen Geist herum sein Körper sich verstofflichte. Sein Fleisch war zurückgekehrt und wurde von kräftigen Händen gepackt, die ihn nach oben zogen. Nein! Bitte, nein!
Doch es war zu spät.
Unerträgliche Qual brannte in seiner Brust, als die Hände ihn durch die Öffnung zogen. Ihm war, als wäre seine Lunge mit Sand gefüllt. Ich kann nicht atmen! Plötzlich lag er mit dem Rücken auf dem kältesten, härtesten Untergrund, der vorstellbar war. Irgendetwas drückte ihm immer wieder auf die Brust, hart und schmerzhaft. Er spie die Wärme aus.
Ich will wieder zurück.
Er fühlte sich wie ein Kind, das gerade aus dem Schoß seiner Mutter verstoßen worden war.
Er zuckte, hustete Flüssigkeit. In seiner Brust und seinem Hals tobte Schmerz. Unerträglicher Schmerz. Seine Kehle brannte. Menschen redeten, und obwohl sie zu flüstern versuchten, war ihr Lärm ohrenbetäubend. Sein Sichtfeld verschwamm. Alles, was er sah, waren schemenhafte Umrisse. Seine Haut war taub und fühlte sich an wie Leder.
Seine Brust kam ihm schwerer vor … Druck. Ich kann nicht atmen!
Wieder hustete er Flüssigkeit aus. Ein überwältigender Würgereiz packte ihn, und er japste heftig. Kalte Luft strömte ihm in die Lunge. Ihm war, als wäre er ein Neugeborenes, das seinen ersten Atemzug tut. Diese Welt war voller Qual. Langdon wollte nur eines: zurück in den Mutterschoß.
Robert Langdon wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Er spürte nun, dass er auf der Seite lag, in Handtücher und Decken eingeschlagen, auf einem harten Boden. Ein bekanntes Gesicht sah zu ihm herunter … doch das wundervolle Licht, das es umspielt hatte, war fort. In seinem Kopf hörte er den Nachhall fernen Gesangs.
Verbum significatum … Verbum omnificum …
»Professor Langdon«, flüsterte jemand. »Wissen Sie, wo Sie sind?«
Langdon nickte matt. Er hustete noch immer.
Wichtiger noch, er begriff allmählich, was in dieser Nacht vor sich ging.
KAPITEL 113
Langdon stand in Wolldecken gehüllt auf wackligen Beinen und blickte auf den geöffneten Tank. Sein Körper war zu ihm zurückgekehrt, obwohl er sich wünschte, es wäre nicht so. Sein Hals und seine Lunge brannten. Die Welt ringsum fühlte sich hart und grausam an.
Sato hatte ihm erklärt, was es mit dem Deprivationstank auf sich hatte, und hinzugefügt, dass er im Tank verhungert oder auf schlimmere Art und Weise gestorben wäre, hätten sie ihn nicht herausgeholt. Sehr wahrscheinlich hatte Peter Solomon die gleiche Erfahrung hinter sich. Peter ist in der Zwischenwelt, hatte der Tätowierte ihm damals gesagt. Er ist im Fegefeuer … Hamistagan. Es würde Langdon nicht überraschen, wenn Peter seinem Entführer alles verraten hatte, was dieser wissen wollte, sollte er mehr als eine solche Wiedergeburt erlitten haben.
Sato winkte Langdon, ihr zu folgen, und er tappte langsam hinter ihr über den schmalen Flur und weiter in das bizarre Labyrinth hinein, das er nun zum ersten Mal sah. Sie gelangten in einen Raum mit einem Tisch aus Stein, in dem ein düsteres rotes Licht herrschte. Langdon sah Katherine und seufzte erleichtert, obwohl sie einen besorgniserregenden Anblick bot.
Sie lag mit dem Rücken auf dem Steintisch; ringsherum auf dem Boden sah man blutgetränkte Handtücher. Ein CIA-Agent hielt einen Infusionsbeutel hoch, der mit ihrem Arm verbunden war.
Sie schluchzte leise.
»Katherine?« Langdons Stimme war rau.
Sie drehte den Kopf, blickte ihn verständnislos an. »Robert?« Ungläubig riss sie die Augen auf. »Aber ich … ich habe dich ertrinken sehen!«
Er trat zu ihr an den Steintisch.
Ohne auf die Infusionsnadel und die Einwände des CIA-Mannes Rücksicht zu nehmen, setzte sie sich auf, schlang die Arme um seinen in Decken gewickelten Körper und zog ihn an sich. »Gott sei Dank«, hauchte sie, küsste ihn auf die Wange und drückte ihn, als könne sie nicht glauben, dass er leibhaftig vor ihr stand. »Ich verstehe nicht … wie …«
Sato sagte etwas von Deprivationstanks und sauerstoffgesättigten Perfluorcarbonen, doch Katherine hörte gar nicht hin. Sie hielt Langdon einfach weiter fest.
»Robert«, sagte sie, »Peter ist am Leben.« Ihre Stimme schwankte, als sie das schreckliche Wiedersehen schilderte. Sie beschrieb Peters körperlichen Zustand, den Rollstuhl, das sonderbare Messer, erzählte von den Anspielungen auf irgendein Opfer und wie sie blutend zurückgelassen wurde, als menschliches Stundenglas, das Peter bewegen sollte, sich zu beeilen.
»Hast du … eine Ahnung … wo sie hin sind?«, fragte Langdon mühsam.
»Er hat etwas von einem heiligen Berg gesagt.«
Langdon löste sich von ihr und blickte sie verwirrt an.
Katherine hatte Tränen in den Augen. »Er sagte, er habe das Muster der Pyramide entschlüsselt, und darum steige