Das verlorene Symbol - Kapitel 72
sie mit Draht fesseln wollte. Vor lauter Verzweiflung versuchte sie die Hände wegzuziehen, doch der brennende Schmerz in den Handgelenken wurde bald unerträglich.
»Der Draht schneidet in dein Fleisch, wenn du versuchst, dich zu bewegen«, zischte der Mann, als er mit ihren Händen fertig war und sich mit angsteinflößender Effizienz ihren Knöcheln zuwandte.
Katherine trat nach ihm. Der Mann versetzte ihr einen Faustschlag gegen den Oberschenkel, der ihr Bein lähmte. Sekunden später war sie auch an den Füßen gefesselt.
»Robert …!«, stieß sie mühsam hervor.
Langdon lag stöhnend auf dem Boden des Flures. Neben seinem Kopf lag die Steinpyramide, die aus der Ledertasche gerollt war. Katherine erkannte, dass die Pyramide ihre letzte Hoffnung war.
»Wir haben die Pyramide entschlüsselt!«, rief sie dem tätowierten Hünen zu. »Ich sage Ihnen alles!«
»Ja, das wirst du.« Mit diesen Worten zog er der toten Wachfrau den Knebel aus dem Rachen und stopfte ihn Katherine in den Mund.
Er schmeckte nach Tod.
Robert Langdon hatte das grässliche Gefühl, als würde sein Körper nicht mehr ihm selbst gehören. Er lag betäubt und regungslos auf dem nackten, kalten Dielenboden. Langdon hatte genug über Taser gehört, um zu wissen, dass sie ihre Opfer bewegungsunfähig machten, indem sie das Nervensystem für eine winzige Zeitspanne überlasteten. Diese Wirkung nannte sich elektromuskuläre Disruption; es fühlte sich an, als wäre man vom Blitz getroffen worden. Es war ein beinahe unerträglicher Schmerz, der jede Faser des Körpers zu durchdringen schien. Langdons Muskeln weigerten sich, den Befehlen seines Gehirns zu gehorchen, ganz gleich, wie sehr er sich darauf konzentrierte.
Steh auf!
Mit dem Gesicht nach unten, paralysiert auf dem Boden, atmete Langdon flach und unregelmäßig. Er hatte noch keinen Blick auf seinen Angreifer werfen können, doch er sah Agent Hartmann in einer ständig größer werdenden Blutlache liegen. Langdon hatte gehört, wie Katherine sich gegen den tätowierten Riesen gewehrt und Worte mit ihm gewechselt hatte; dann war ihre Stimme plötzlich dumpf und leise geworden. Offensichtlich hatte der Mann sie geknebelt.
Steh auf, Robert! Du musst ihr helfen!
Langdons Beine brannten wie Feuer. Es war ein schmerzhaftes, quälendes Gefühl wie von eingeschlafenen Gliedmaßen. Trotzdem gehorchten ihm seine Glieder immer noch nicht. Beweg dich, verdammt noch mal! Seine Arme zuckten, als Taubheit und Lähmung endlich verebbten. Die Starre im Gesicht löste sich. Unter größter Anstrengung gelang es ihm, den Kopf zu drehen. Seine Wange streifte unsanft über den Holzboden, doch seine Sicht auf das Esszimmer war versperrt durch die Steinpyramide, die aus der Tasche gefallen war und nur Zentimeter vor seinen Augen lag.
Im ersten Moment begriff Langdon nicht, was er vor sich sah. Das Steinquadrat vor ihm war offensichtlich die Unterseite der Pyramide, doch sie hatte sich irgendwie verändert. Sehr verändert. Sie war immer noch quadratisch, immer noch aus Stein, doch sie war nicht mehr eben und glatt, sondern mit eingravierten Zeichen bedeckt. Wie ist das möglich? Langdon starrte für mehrere Sekunden auf das Objekt, während er sich fragte, ob er an Halluzinationen litt. Ich habe die Unterseite der Pyramide ein Dutzend Mal gesehen! Sie hatte keinerlei Gravuren!
Dann dämmerte es ihm.
Sein Atemreflex setzte ein, und er sog tief die Luft in die Lunge, als ihm klar wurde, dass die Freimaurerpyramide noch mehr Geheimnisse verbarg, die auf Entdeckung warteten. Ich bin Zeuge einer weiteren Transformation geworden.
Schlagartig wurde ihm auch die Bedeutung von Galloways seltsamer letzter Bitte klar. Sagen Sie Peter, dass die Freimaurerpyramide ihr Geheimnis stets bewahrt hat. Will man es lösen, muss man aus sich herauswachsen.
Die Aussage war Langdon ein Rätsel gewesen, doch nun begriff er, dass der Dompropst auf diese Weise versucht hatte, Peter Solomon eine verschlüsselte Nachricht zu übermitteln. Herauswachsen … das Wachs herauslösen. Seit den Tagen Michelangelos hatten Bildhauer die Fehler in ihren Arbeiten dadurch verdeckt, dass sie heißes Wachs in die Spalten ihrer Skulpturen gegossen und dieses Wachs anschließend mit Steinstaub betupft hatten. Die Methode galt als Schummelei; aus diesem Grund war nur eine Skulptur ohne Wachs ein echtes Werk.
Die Gravuren auf der Unterseite der Pyramide waren auf dieselbe Weise getarnt worden. Als Katherine den Anweisungen des Decksteins gefolgt war und die Pyramide gekocht hatte, war das Wachs herausgeschmolzen, und die Gravuren waren zum Vorschein gekommen. Galloway hatte die Pyramide mit den Händen betastet und offenbar die freigelegten Vertiefungen auf der Unterseite gespürt.
Schlagartig – nur für einen kurzen Augenblick – hatte Langdon die Gefahr vergessen, der er und Katherine ausgesetzt waren. Er starrte auf die unglaubliche Matrix aus Symbolen auf der Unterseite des so rätselhaften Objekts. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sie bedeuteten oder welches weitere Mysterium sie letztendlich preisgeben würden, doch eines war sicher: Die Freimaurerpyramide hat uns noch längst nicht all ihre Geheimnisse verraten. Eight Franklin Square ist nicht die endgültige Antwort. Ob es nun die von Adrenalin befeuerte Offenbarung war oder ob es an den wenigen zusätzlichen Sekunden lag, die Langdon am Boden gelegen hatte, vermochte er nicht zu sagen, doch er spürte, wie er unvermittelt die Kontrolle über seinen Körper zurückgewann.
Unter Schmerzen schob er die Ledertasche zur Seite, bis er freie Sicht auf das Esszimmer und die Vorgänge dort hatte.
Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass Katherine gefesselt am Boden lag, mit einem großen Stofffetzen als Knebel im Mund. Langdon spannte die Muskeln an, versuchte sich auf die Knie zu erheben, doch einen Moment später erstarrte er ungläubig. Im Durchgang zum Esszimmer war unvermittelt ein furchterregender Anblick erschienen. Eine menschliche Gestalt, wie Langdon sie nie zuvor gesehen hatte.
Was ist das, um Himmels willen?
Langdon strampelte mit den Beinen, rollte sich herum, versuchte zurückzuweichen, doch der tätowierte Riese packte ihn, drehte ihn auf den Rücken und hockte sich rittlings auf seine Brust. Er stemmte die Knie auf Langdons Oberarme und nagelte ihn auf diese Weise hilflos am Boden fest. Auf der Brust des Riesen prangte auf schwellenden Muskeln ein doppelköpfiger Phönix. Hals, Gesicht und kahler Schädel waren übersät mit einer schwindelerregenden Anzahl von ungewöhnlichen, ineinander verschlungenen Symbolen – Siegeln, erkannte Langdon, wie sie in magischen Ritualen benutzt wurden.
Bevor Langdon noch mehr sehen konnte, packte der Riese seinen Kopf zwischen beide Hände, hob ihn vom Boden hoch und hämmerte ihn mit brutaler Wucht auf den harten Holzfußboden.
Alles wurde schwarz.
KAPITEL 96
Mal’akh stand in der Eingangshalle und betrachtete das Massaker um ihn herum. Sein Heim sah aus wie ein Schlachtfeld.
Robert Langdon lag bewusstlos zu seinen Füßen.
Katherine Solomon wand sich gefesselt und geknebelt auf dem Boden des Esszimmers.
Neben ihr lag die Leiche der Frau vom Sicherheitsdienst. Sie war aus dem Sessel gekippt, in den Mal’akh sie gesetzt hatte, und an Ort und Stelle liegen geblieben. Die Frau hatte in dem panischen Bemühen, das eigene Leben zu retten, genau das getan, was Mal’akh von ihr verlangt hatte: Mit einem Messer an der Kehle hatte sie seinen Anruf entgegengenommen und die Lügen erzählt, die Langdon und Katherine dazu gebracht hatten, schnellstmöglich hierher zu kommen. Anschließend hatte Mal’akh die Frau erdrosselt.
Um die Illusion, dass er nicht zu Hause sei, noch überzeugender zu machen, hatte er Bellamy aus einem seiner vielen Fahrzeuge angerufen. »Ich bin unterwegs«, hatte er zum Architekten gesagt – und wem auch immer, der sonst noch zugehört hatte. »Peter Solomon ist im Kofferraum meines Wagens.« In Wahrheit war Mal’akh nur zwischen Garage und Einfahrt hin und her gefahren. Anschließend hatte er einige weitere seiner Fahrzeuge mit brennenden Scheinwerfern und laufenden Motoren in der Auffahrt geparkt.
Die Täuschung war perfekt gewesen.
Beinahe.
Der einzige Makel war die blutüberströmte, schwarz gekleidete Gestalt im Foyer. Der Mann, aus dessen Hals ein Schraubenzieher ragte. Mal’akh durchsuchte den Leichnam und kicherte, als er ein winziges digitales Funkgerät und ein Mobiltelefon mit CIA-Logo fand. Wie es scheint, haben sogar sie von meinen Kräften Wind bekommen. Er entfernte die Akkus und zerschmetterte die beiden Geräte mit einem schweren bronzenen Türstopper.
Mal’akh wusste, dass er sich beeilen musste, insbesondere jetzt, nachdem die CIA sich eingeschaltet hatte. Er kehrte zu Langdon zurück. Der Professor war bewusstlos und würde es noch für eine ganze Weile bleiben. Mal’akhs Blick schweifte zu der Steinpyramide auf dem Boden neben der offenen Tasche des Symbolologen. Ihm stockte der Atem, und sein Herz schlug plötzlich schneller.
Auf diesen Augenblick habe ich viele Jahre gewartet …
Mit zitternden Händen nahm er die Freimaurerpyramide an sich. Ehrfürchtig strich er mit den Fingern über die Gravuren und spürte die von ihnen ausgehende Verheißung. Ehe er vollends in Verzückung geraten konnte, nahm er die Pyramide und steckte sie zurück in Langdons Ledertasche, in der sich auch der Deckstein befand. Dann zog er den Reißverschluss zu.
Bald werde ich die Pyramide zusammensetzen … an einem sichereren Ort.
Er warf sich die Tasche über die Schulter und versuchte Langdon hochzuheben, doch der durchtrainierte Wissenschaftler war viel schwerer, als Mal’akh erwartet hatte. Schließlich begnügte er sich damit, ihn unter den Achseln zu packen und zur Haustür zu schleifen. Was ich mit ihm vorhabe, wird ihm ganz und gar nicht gefallen, ging es Mal’akh durch den Kopf.
Während er mit Langdon beschäftigt war, plärrte unablässig der Fernseher in der Küche. Die Stimmen waren Teil des Täuschungsmanövers gewesen, und Mal’akh war noch nicht dazu gekommen, den Fernseher wieder auszuschalten. Ein Prediger führte seine Schar durch das Vaterunser. Mal’akh fragte sich, ob einer der hypnotisierten Zuschauer überhaupt eine Ahnung hatte, woher dieses Gebet ursprünglich rührte.
»… im Himmel wie auf Erden …«, intonierte die Gruppe.
Ja, dachte Mal’akh. Wie oben, so unten.
»… und führe uns nicht in Versuchung …«
Hilf uns, die Schwächen des Fleisches zu überwinden.
»… sondern erlöse uns von dem Bösen …«, flehten die Gläubigen inbrünstig.
Mal’akh grinste. Das könnte schwierig werden. Die Dunkelheit breitet sich immer mehr aus. Trotzdem musste er ihnen zugutehalten, dass sie es zumindest versuchten. Menschen, die zu unsichtbaren Mächten sprachen und sie um Hilfe baten,