Das verlorene Symbol - Kapitel 68
alchimistischer Katalysator, und sie wurde nicht immer in Fahrenheit oder Celsius gemessen. Es gibt weit ältere Temperaturskalen. Eine davon hat Isaac …«
»Kluges Mädchen«, sagte Langdon, der erkannte, dass Katherine recht hatte. »Die Newton-Skala.«
»Ja. Isaac Newton hat ein System zur Temperaturmessung ersonnen, das ausschließlich auf natürlichen Phänomenen beruhte. Die Temperatur von schmelzendem Schnee war dabei sein Ausgangspunkt. Das waren seine null Grad.« Katherine hielt kurz inne. »Ich nehme an, du kannst dir denken, wie viel Grad er für die Temperatur von kochendem Wasser angesetzt hat – dem König aller alchimistischen Prozesse?«
»33?«
»Kluger Junge. 33 – der 33. Grad. Auf der Newton-Skala beträgt die Temperatur von kochendem Wasser dreiunddreißig Grad. Warum hat Newton ausgerechnet diese Zahl gewählt? Warum nicht die 100? Peter hat mir mal gesagt, dass es für einen Mystiker wie Newton keine elegantere und symbolhaftere Zahl gab als die 33 und dass er sich deshalb dafür entschieden habe.«
Alles wird enthüllt mit dem 33. Grad. Langdon schaute auf den Wassertopf und dann zur Pyramide. »Katherine, die Pyramide besteht aus Granit und massivem Gold. Glaubst du wirklich, kochendes Wasser ist heiß genug, um eine Transformation in Gang zu setzen, wie immer sie aussehen mag?«
Das Lächeln auf Katherines Gesicht verriet Langdon, dass sie irgendetwas wusste, was ihm bisher entgangen war. Selbstbewusst ging sie zur Arbeitsplatte, hob die Granitpyramide mit ihrer Goldspitze an und stellte sie in den Einsatz. Dann senkte sie alles vorsichtig in das blubbernde Wasser. »Gleich werden wir es wissen.«
Hoch über der National Cathedral schaltete der CIA-Pilot den Hubschrauber in den automatischen Schwebemodus und suchte das Umfeld des Gebäudes ab. Keine Bewegungen. Sein Wärmebildgerät konnte den Stein der Kathedrale nicht durchdringen, deshalb wusste er nicht, was das Einsatzteam dort drinnen machte, doch sobald jemand ins Freie kam, würde die Wärmebildkamera ihn augenblicklich aufspüren.
Sechzig Sekunden später schlug das Gerät an, als es einen starken Temperaturunterschied registrierte, was für gewöhnlich bedeutete, dass eine menschliche Gestalt sich durch ein kühleres Umfeld bewegte; aber was nun auf dem Monitor erschien, war eher eine thermische Wolke, ein Flecken heißer Luft, der über den Rasen trieb. Dann entdeckte der Pilot die Quelle: Es war ein aktiver Luftabzugsschacht an der Außenmauer des Cathedral College.
Hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten, dachte er. Er sah diese Art von Anzeigeverlauf immer wieder. Jemand kocht oder wäscht.
Er wollte gerade den Blick abwenden, als er etwas Merkwürdiges bemerkte: Auf dem Parkplatz stand kein Auto, und nirgendwo brannte Licht.
Einen langen Augenblick studierte der Pilot das Bildsystem seines Black-Hawk. Dann funkte er an den Einsatzleiter: »Simkins, es ist vermutlich nichts, aber …«
»Thermochromie!« Langdon musste zugeben, das war clever.
»Das habe ich mit ›simpler Wissenschaft‹ gemeint«, sagte Katherine. »Unterschiedliche Substanzen beginnen bei unterschiedlichen Temperaturen zu leuchten. Das nennen wir thermischen Marker. Ein gängiges Verfahren in den Naturwissenschaften.«
Langdon blickte zu der untergetauchten Pyramide und dem Deckstein. Dampf wogte über dem blubbernden Wasser; viel Hoffnung auf irgendeinen Erfolg hatte Langdon allerdings nicht.
Er schaute auf die Uhr, und sein Puls ging schneller: 23.45 Uhr. »Glaubst du, irgendetwas wird hier luminiszieren?«
»Nicht luminiszieren, Robert. Hier geht es um Inkandeszenz. Das ist ein großer Unterschied. Inkandeszenz wird durch Hitze hervorgerufen und tritt je nach Material bei einer ganz bestimmten Temperatur auf. Bei der Herstellung von Stahlträgern beispielsweise wird das Metall mit einer transparenten Schicht eingesprüht, die bei einer bestimmten Zieltemperatur zu glühen beginnt, damit man weiß, wann das Produkt fertig ist. Denk an einen Stimmungsring. Steck ihn dir an den Finger, und er verändert seine Farbe je nach Körpertemperatur.«
»Katherine, die Pyramide wurde im 19. Jahrhundert gefertigt. Ich kann ja nachvollziehen, wenn der Feinmechaniker von damals einen verborgenen Klappmechanismus eingebaut hat, aber eine transparente, hitzeabhängige Schicht …?«
»Durchaus vorstellbar«, erwiderte Katherine und schaute hoffnungsvoll auf die untergetauchte Pyramide. »Schon die Alchimisten haben organische Phosphorverbindungen als thermische Marker benutzt. Selbst die alten Chinesen, sogar schon die Ägypter …« Katherine hielt mitten im Satz inne und starrte in das kochende Wasser.
»Was ist?« Langdon folgte ihrem Blick, sah aber nichts.
Katherine beugte sich vor, schaute noch genauer hin. Plötzlich drehte sie sich um und eilte durch die Küche zur Tür.
»Wo willst du hin?«, rief Langdon ihr hinterher.
Katherine schaltete das Licht aus; gleichzeitig verstummte die Lüftung. Mit einem Schlag wurde es vollkommen still und stockdunkel. Langdon wandte sich wieder der Pyramide zu und schaute durch den Dampf auf den Deckstein im Wasser. Als Katherine wieder neben ihn trat, stand sein Mund vor Staunen offen.
Genau wie Katherine vorhergesagt hatte, begann ein kleiner Teil des Decksteins unter Wasser zu glühen. Buchstaben erschienen und leuchteten immer heller, je länger das Wasser kochte.
»Text!«, flüsterte Katherine.
Langdon nickte bloß. Es hatte ihm glatt die Sprache verschlagen. Die leuchtenden Worte erschienen unmittelbar unter der Inschrift auf dem Deckstein. Es schienen nur drei Worte zu sein. Wenngleich Langdon sie noch nicht lesen konnte, fragte er sich, ob sie wohl alles enthüllen würden, wonach sie in dieser Nacht gesucht hatten. Hier haben wir es mit einer richtigen Karte zu tun, hatte Galloway ihnen gesagt. Und sie weist zu einem sehr realen Ort.
Als die Buchstaben hell genug strahlten, drehte Katherine das Gas ab, und das kochende Wasser hörte allmählich auf zu brodeln. Der Deckstein war nun wieder unverzerrt unter der sich beruhigenden Wasseroberfläche zu sehen.
Deutlich waren drei leuchtende Worte zu lesen.
KAPITEL 90
Im schwachen Licht der Küche des Cathedral College standen Langdon und Katherine über den Wassertopf gebeugt und starrten auf den transformierten Deckstein unter der Wasseroberfläche. Auf einer Seite der goldenen Pyramidenspitze erstrahlte deutlich sichtbar eine Botschaft.
Langdon las den leuchtenden Text. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Langdon wusste, dass die Pyramide einen bestimmten Ort enthüllen sollte, hätte aber nie vermutet, dass die Ortsangabe so präzise sein würde.
Eight Franklin Square
»Eine Adresse«, flüsterte er erstaunt.
Katherine war nicht minder verblüfft. »Eight Franklin Square … Ich weiß nicht, was dort ist. Du?«
Langdon schüttelte den Kopf. Er wusste, dass der Franklin Square in einem der älteren Stadtteile von Washington lag, doch die Adresse sagte ihm nichts. Er blickte auf die Spitze des Decksteins und las den gesamten Text von oben nach unten.
The
secret hides
within The Order
Eight Franklin Square
Gibt es irgendeinen Orden am Franklin Square?
Gibt es dort ein Gebäude, das den Zugang zu einer in die Tiefe führenden Wendeltreppe verbirgt?
Langdon hatte keine Ahnung, ob am Franklin Square tatsächlich irgendetwas vergraben war. Doch wichtig war zum jetzigen Zeitpunkt vor allem, dass er und Katherine die Pyramide entschlüsselt hatten und nun über die Information verfügten, die es ihnen ermöglichte, über Peters Freilassung zu verhandeln.
Und das keinen Augenblick zu früh.
Die leuchtenden Zeiger von Langdons Micky-Maus-Uhr zeigten an, dass ihnen nur noch zehn Minuten blieben.
»Ruf an«, sagte Katherine und wies auf ein Telefon an der Küchenwand. »Jetzt!«
Dass dieser Augenblick so plötzlich gekommen war, ließ Langdon zögern.
»Bis du dir ganz sicher?«
»Ja.«
»Aber ich werde ihm nichts sagen, solange wir nicht wissen, ob Peter in Sicherheit ist.«
»Natürlich nicht. Bitte, ruf jetzt an. Hast du noch die Nummer im Kopf?«
Langdon nickte und ging zum Küchentelefon. Er nahm den Hörer ab und wählte die Handynummer des Mannes. Katherine kam zu ihm und schob den Kopf vor, sodass sie mithören konnte. Während das Freizeichen ertönte, bereitete Langdon sich innerlich darauf vor, nun wieder das gespenstische Wispern des Mannes zu hören, der ihn am Abend so hereingelegt hatte.
Endlich wurde der Anruf entgegengenommen.
Doch es gab keine Begrüßung. Keine Stimme meldete sich. Am anderen Ende war lediglich ein Atmen zu vernehmen.
Langdon wartete. Schließlich sagte er: »Ich habe die Information, die Sie haben wollten. Aber Sie bekommen sie erst, wenn Peter bei uns ist.«
»Wer ist da?«, fragte die Stimme einer Frau.
Langdon erschrak. »Robert Langdon«, antwortete er reflexartig. »Wer sind Sie?« Einen Augenblick glaubte er, sich verwählt zu haben.
»Ihr Name ist Langdon?« Die Frau klang überrascht. »Hier ist jemand, der nach Ihnen fragt.«
Was? »Wie bitte? Wer sind Sie?«
»Officer Paige Montgomery von Preferred Security.« Ihre Stimme zitterte. »Vielleicht können Sie uns ja helfen. Vor etwa einer Stunde hat meine Kollegin einen Notruf in Kalorama Heights entgegengenommen – eine mögliche Geiselnahme. Auf einmal hatte ich keine Verbindung mehr zu ihr. Daraufhin habe ich Verstärkung angefordert, und wir sind gemeinsam zu dem Haus gefahren. Wir haben meine Kollegin tot im Hinterhof gefunden. Der Hausbesitzer war nicht da, also haben wir die Tür aufgebrochen. Im Flur lag ein Handy auf einem Tisch. Es klingelte, und ich …«
»Sind Sie noch in dem Haus?«, unterbrach Langdon den Redefluss der Frau.
»Ja, und der Notruf … er war echt«, stammelte sie. »Bitte entschuldigen Sie, wenn ich ein bisschen durcheinander klinge, aber meine Kollegin ist tot, und wir haben einen Mann gefunden, der hier gegen seinen Willen festgehalten wurde. Sein Zustand ist ziemlich schlecht. Wir versorgen ihn gerade. Er hat nach zwei Leuten gefragt – einem Mr. Langdon und einer Katherine.«
»Der Mann ist mein Bruder Peter!«, rief Katherine in den Apparat und drückte ihren Kopf noch dichter an Langdons. »Ich habe den Notruf abgesetzt! Wie geht es Peter?«
»Um ehrlich zu sein, Ma’am, er ist …« Für einen Moment versagte der Frau die Stimme. »Sein Zustand ist ziemlich schlecht. Ihm wurde die rechte Hand abgetrennt.«
»Bitte«, drängte Katherine. »Ich will mit ihm sprechen!«
»Im Augenblick sind die Rettungssanitäter bei ihm. Er verliert immer wieder das Bewusstsein. Wenn es geht, sollten Sie sofort hierher kommen. Er will Sie offensichtlich sehen.«
»Wir sind in fünf Minuten bei Ihnen!«, sagte Katherine.
»Gut.« Ein gedämpftes Geräusch ertönte im Hintergrund; dann meldete die Frau sich wieder. »Tut mir leid, ich werde gebraucht. Wir reden weiter, sobald Sie hier sind.«
Die Leitung war tot.
KAPITEL 91
Im Cathedral College eilten Langdon und Katherine die Kellertreppe hinauf und rannten durch den dunklen Korridor zum Vorderausgang. Das Rattern des Helikopters war verstummt, und Langdon hoffte, ungesehen aus dem Gebäude schlüpfen und nach Kalorama