Das verlorene Symbol - Kapitel 65
diesen Ring jahrelang getragen. Ich kenne ihn recht gut.« Er gab Langdon den Ring zurück. »Schauen Sie selbst.«
Langdon nahm den Ring und betrachtete ihn ganz genau. Er ließ die Finger über den doppelköpfigen Phönix, die Ziffer 33, die Wörter ordo ab chao und den Spruch ›Alles wird enthüllt mit dem 33. Grad‹ schweifen. Er spürte nichts, das ihn weiterbrachte. Dann aber, als seine Finger weiter an der Außenseite des Ringbandes entlangfuhren, hielt er unvermittelt inne. Verblüfft drehte er den Ring um und starrte auf die Stelle unten auf dem Band, genau gegenüber dem Siegel.
»Haben Sie es gefunden?«, fragte Galloway.
»Ich glaube, ja«, erwiderte Langdon.
Katherine rückte näher. »Was denn?«
»Das Gradzeichen auf dem Band«, sagte Langdon und zeigte es ihr. »Es ist so klein, dass man es mit bloßem Auge kaum erkennen kann. Aber wenn man mit dem Finger darüberfährt, spürt man, dass es absichtlich dort angebracht wurde – wie ein winziger Einstich.« Das Gradzeichen saß genau in der Mitte des Ringbandes und sah aus, als hätte es exakt dieselbe Größe wie die punktförmige Erhebung auf dem Boden des Würfels.
»Es ist genauso groß?« Katherine, in deren Stimme nun Erregung mitschwang, kam noch näher.
»Das können wir herausfinden.« Langdon nahm den Ring, senkte ihn in den Würfel und brachte die beiden Kreise exakt übereinander. Als er sie aufeinanderdrückte, glitt der erhabene Circumpunct im Würfel genau in die kleine Ausbuchtung des Rings. Ein leises, aber deutlich vernehmbares Klicken war zu hören.
Alle zuckten zusammen.
Langdon wartete, doch nichts geschah.
»Was war das?«, fragte Galloway.
»Nichts«, antwortete Katherine. »Der Ring ist arretiert … aber sonst ist nichts geschehen.«
»Keine große Transformation?« Galloway wirkte verwirrt.
Wir sind noch nicht fertig, erkannte Langdon, als er auf die im Ring eingravierten Insignien starrte: den doppelköpfigen Phoenix und die Zahl 33. Alles wird enthüllt mit dem 33. Grad.
Er musste an Pythagoras denken, an die heilige Geometrie und an Winkel, und er fragte sich, ob ›Grad‹ vielleicht eine mathematische Bedeutung hatte.
Sein Puls ging schneller. Er streckte die Hand aus und ergriff den Ring, der auf dem Boden des Würfels arretiert war. Behutsam drehte er ihn nach rechts. Alles wird enthüllt mit dem 33. Grad.
Er drehte den Ring zehn Grad nach rechts … zwanzig … dreißig.
Was dann geschah, hätte Langdon nie erwartet.
KAPITEL 85
Transformation.
Dompropst Galloway hörte nur, wie es geschah, wusste aber genau, was vor sich ging.
Gegenüber von seinem Schreibtisch saßen Langdon und Katherine und starrten in sprachlosem Erstaunen auf den Steinwürfel, der sich vor ihren Augen soeben lautlos umgebildet hatte.
Galloway konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er hatte dieses Ergebnis vorausgesehen. Auch wenn er noch nicht wusste, wie diese Entwicklung letztlich dazu beitragen konnte, das Rätsel der Pyramide zu lösen, freute er sich diebisch über die seltene Gelegenheit, einem Harvard-Symbolologen etwas über Symbole beizubringen.
»Professor«, sagte der alte Mann, »nur wenige Leute wissen, dass die Freimaurer die Form des Würfels – oder Quaders – verehren, weil er die dreidimensionale Gestalt eines anderen Symbols ist … eines viel älteren, zweidimensionalen Symbols.« Galloway brauchte nicht zu fragen, ob Langdon das uralte Symbol erkannte, das jetzt vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Es war eines der berühmtesten der Welt.
Robert Langdons Gedanken überschlugen sich, als er auf den umgewandelten Steinwürfel starrte. Ich hatte ja keine Ahnung …
Eben noch hatte er in das Steinkästchen gegriffen, den Freimaurerring genommen und ihn um dreiunddreißig Grad gedreht. An diesem Punkt hatte der Würfel sich vor seinen Augen umgebildet: Die Wände kippten eine nach der anderen zur Seite, wobei ihre verborgenen Angeln sich lösten, bis das gesamte Kästchen auseinanderfiel. Seitenwände und Deckel klappten nacheinander auf die Tischplatte.
Der Würfel wird zu einem Kreuz, dachte Langdon. Symbol-Alchimie.
Katherine machte ein verwirrtes Gesicht. »Die Freimaurerpyramide hat Bezug zum Christentum?«
Einen Moment stellte Langdon sich dieselbe Frage. Das christliche Kreuz war bei den Freimaurern ein bedeutendes Symbol, und zweifellos gab es viele Christen unter ihnen. Doch es gab ebenso Juden, Muslime, Buddhisten, Hindus und solche, die keinen Namen für ihren Gott hatten. Die Präsenz eines rein christlichen Symbols erschien einschränkend. Dann aber dämmerte Langdon die wahre Bedeutung.
»Das ist kein christliches Kreuz«, sagte er und stand auf. »Das Kreuz mit dem Circumpunct ist ein Doppelsymbol, bei dem zwei zu einem verschmolzen sind.«
»Was meinst du damit?« Katherines Blicke folgten ihm, als er unruhig auf und ab ging.
»Das Kreuz«, sagte Langdon, »war bis zum 4. Jahrhundert kein christliches Symbol. Schon lange vorher wurde es von den Ägyptern benutzt, um die Überschneidung von zwei Dimensionen darzustellen – der menschlichen und der göttlichen. Wie oben, so unten. Es war eine Verbildlichung jenes Augenblicks, in dem Mensch und Gott eins werden.« Er blieb stehen und blickte Katherine an. »Der Circumpunct«, fuhr er dann fort, »hat viele Sinninhalte, wie wir wissen. Eine sehr esoterische Bedeutung ist die der Rose, das alchimistische Symbol für Vollkommenheit. Setzt man eine Rose jedoch in die Mitte eines Kreuzes, erhält man ein ganz anderes Zeichen – das Rosenkreuz.«
Galloway lehnte sich lächelnd zurück. »Na, na, jetzt reimen Sie sich aber was zurecht.«
Katherine erhob sich nun ebenfalls. »Moment, ich kann euch nicht mehr folgen«, sagte sie zu Langdon und Galloway.
»Das Rosenkreuz«, erklärte Langdon, »ist ein gängiges Symbol in der Freimaurerei. Einer der Grade des Schottischen Ritus ist der Ritter vom Rosenkreuz, ein Bezug zu den frühen Rosenkreuzern, die die freimaurerische Philosophie beeinflusst haben. Peter hat sie dir gegenüber, Katherine, vielleicht einmal erwähnt. Viele große Wissenschaftler waren Rosenkreuzer: John Dee, Elias Ashmole, Robert Fludd …«
»Ja«, sagte Katherine. »Ich habe während meiner Forschungen die Rosenkreuzermanifeste gelesen.«
Das sollte jeder Wissenschaftler tun, dachte Langdon. Der Orden vom Rosenkreuz – offizieller: der Alte Mystische Orden vom Rosenkreuz – hatte eine dunkle Vergangenheit, die großen Einfluss auf die Wissenschaft besaß und vieles mit der Legende der Alten Mysterien gemein hatte: Auch hier spielten alte Gelehrte eine Rolle, die geheimes Wissen besaßen, das durch sämtliche Zeitalter weitergegeben und nur von den klügsten Köpfen studiert wurde. Bekanntermaßen war die Liste berühmter Rosenkreuzer eine Art Who’s who des europäischen 16. und 17. Jahrhunderts: Paracelsus, Bacon, Fludd, Descartes, Pascal, Spinoza, Newton, Leibniz.
Der Orden vom Rosenkreuz gründete sich auf ›esoterischen Wahrheiten der alten Vergangenheit‹, die ›vor dem durchschnittlichen Menschen zu verbergen‹ seien und tiefen Einblick in die ›göttliche Sphäre‹ verhießen. Das Symbol der Bruderschaft hatte sich im Lauf der Jahre zu einer aufgeblühten Rose auf einem verzierten Kreuz entwickelt, das jedoch von einem schlichten Kreis mit einem Punkt in der Mitte auf einem ebenso schlichten Kreuz ausging – der einfachsten Darstellung der Rose auf der einfachsten Darstellung des Kreuzes.
»Peter und ich unterhalten uns oft über die Rosenkreuzerphilosophie«, sagte Galloway zu Katherine.
Während der Dompropst die Beziehung zwischen Freimaurerei und Rosenkreuzertum umriss, schweiften Langdons Überlegungen wieder zu dem Gedanken ab, der ihn schon den ganzen Abend beschäftigte. Jeova Sanctus Unus. Dieser Ausdruck hat etwas mit Alchimie zu tun. Er konnte sich noch immer nicht genau erinnern, was Peter ihm darüber gesagt hatte, aber die Erwähnung der Rosenkreuzer musste ihn wieder auf diesen Gedanken gebracht haben. Denk nach, Robert!
»Ihr Gründer«, sagte Galloway soeben, »war angeblich ein deutscher Mystiker mit Namen Christian Rosencreutz – offensichtlich ein Pseudonym, vielleicht für Francis Bacon, der die Gesellschaft nach Ansicht einiger Historiker gegründet haben soll, wofür es allerdings keinen Beweis …«
»Ein Pseudonym!«, rief Langdon plötzlich aus. »Das ist es! Jeova Sanctus Unus ist ein Pseudonym!«
»Was meinst du damit?«, fragte Katherine.
Langdons Herz schlug schneller. »Ich versuche schon den ganzen Abend, mich zu erinnern, was Peter mir über diesen Begriff und seinen Bezug zur Alchimie gesagt hat, und endlich ist es mir eingefallen. Es hat weniger mit der Alchimie als mit einem Alchimisten zu tun … einem sehr berühmten Alchimisten!«
Galloway kicherte. »Das wird aber auch Zeit, Professor. Ich habe seinen Namen schon zweimal erwähnt – und auch das Wort Pseudonym.«
Langdon starrte den alten Dompropst an. »Sie haben es gewusst?«
»Nun, ich hatte gewisse Vermutungen, als Sie mir sagten, die Inschrift laute ›Jeova Sanctus Unus‹ und sei mithilfe von Dürers alchimistischem magischen Quadrat entschlüsselt worden. Doch als Sie das Rosenkreuz fanden, war ich sicher. Wie Sie wahrscheinlich wissen, enthielten die persönlichen Unterlagen des fraglichen Wissenschaftlers eine mit ausgiebigen Anmerkungen versehene Abschrift der Rosenkreuzermanifeste.«
»Von wem reden Sie?«, fragte Katherine.
»Von einem der größten Wissenschaftler aller Zeiten«, antwortete Langdon. »Er war Alchimist, Mitglied der Royal Society of London und Rosenkreuzer, und er unterzeichnete seine geheimsten wissenschaftlichen Papiere mit einem Pseudonym – Jeova Sanctus Unus.«
»Der Eine Wahre Gott?«, meinte Katherine. »Ein bescheidener Mensch.«
»Ein brillanter Geist«, sagte Galloway. »Er hat seine Schriften mit ›Jeova Sanctus Unus‹ unterzeichnet, weil er sich als göttlich begriff, wie die alten Adepten. Ein weiterer Grund war der, dass die sechzehn Buchstaben von ›Jeova Sanctus Unus‹ so umgruppiert werden können, dass sich der lateinische Name dieses Genies ergibt – ein perfektes Pseudonym.«
Katherine blickte die Männer ratlos an. »›Jeova Sanctus Unus‹ ist ein Anagramm für einen berühmten Alchimisten?«
Langdon nahm einen Notizzettel und einen Stift vom Schreibtisch und schrieb, während er erklärte: »Im Lateinischen steht das I für J und das V für U, sodass es genau hinkommt.«
Langdon schrieb die sechzehn Buchstaben nieder: Isaacus Neutonuus.
Er reichte Katherine den Zettel. »Ich nehme an, du hast schon von ihm gehört.«
»Isaac Newton?«, fragte Katherine und blickte auf die Notiz. »Ist es das, was die Inschrift auf der Pyramide uns mitteilen will?«
In Gedanken stand Langdon wieder in der Westminster Abbey vor Newtons pyramidenförmigem Grabmal, wo er vor Jahren eine ähnliche Erleuchtung erlebt hatte. Und heute Nacht tauchte der große Wissenschaftler wieder auf. Das war kein Zufall … die Pyramiden, Geheimnisse, Wissenschaft, Alchimie, verborgenes Wissen … alles war miteinander verflochten. Newtons Name war immer schon ein Wegweiser für jene gewesen, die geheimes Wissen suchten.
»Isaac Newton«, sagte Galloway, »muss etwas damit zu tun haben, wie die Bedeutung der