Das verlorene Symbol - Kapitel 60
Auffassungsgabe und ihrem Improvisationstalent.
»Du warst aber auch nicht schlecht.« Sie lächelte ihm zu.
Zuerst hatte Langdon gerätselt, was Katherines merkwürdiges Verhalten im Taxi bedeuten mochte. Von einer Sekunde zur anderen hatte sie darauf beharrt, dass die Freedom Plaza ihr Ziel sei, wobei sie sich auf irgendeine obskure Erkenntnis über einen Davidsstern und das Staatssiegel der Vereinigten Staaten stützte. Sie hatte ein bekanntes Verschwörungstheoriebild auf eine Dollarnote gezeichnet und Langdon dann aufgefordert, er sollte genau hinsehen, worauf sie zeige.
Und schließlich war Langdon ein Licht aufgegangen: Katherine zeigte nicht auf den Dollarschein, sondern auf eine winzige Kontrolllampe an der Rückseite des Fahrersitzes. Das Lämpchen war so verdreckt, dass er es nicht einmal bemerkt hatte. Doch als er sich vorbeugte, konnte er sehen, dass das Licht in einem matten roten Schein brannte. Er konnte auch die zwei Worte lesen, die direkt unter der erleuchteten Anzeige standen.
– INTERCOM ON –
Überrascht blickte Langdon zu Katherine zurück, die ihn mit hektischem Augenrollen drängte, einen Blick nach vorne auf den Fahrersitz zu werfen. Langdon gehorchte und riskierte einen diskreten Blick durch die Trennscheibe. Das Handy des Taxifahrers lag auf dem Armaturenbrett, aufgeklappt, erleuchtet, direkt neben dem Mikrofon der Wechselsprechanlage. Jetzt wusste Langdon, was Katherine ihm hatte sagen wollen.
Sie wissen, dass wir in diesem Taxi sind … sie haben uns belauscht.
Langdon wusste nicht, wie viel Zeit Katherine und er noch hatten, bis man ihr Taxi anhalten und sie auffordern würde, mit erhobenen Händen herauszukommen. Doch er wusste, dass sie jetzt schnell handeln mussten. Deshalb hatte er sich sofort auf das Spiel eingelassen, da ihm klar war, dass Katherines Absicht, zur Freedom Plaza zu fahren, nichts mit der Pyramide zu tun hatte, sondern allein mit der Tatsache, dass sich dort eine große U-Bahn-Station befand – Metro Center –, von der aus die Red, Blue und Orange Line in sechs verschiedene Richtungen führten.
An der Freedom Plaza stiegen sie aus dem Taxi, und Langdon übernahm die weitere Improvisation, wobei er eine Spur zum Masonic Memorial in Alexandria legte. Dann eilten Katherine und er in die U-Bahn-Station hinunter, vorbei am Bahnsteig der Blue Line und weiter zu dem der Red Line, wo sie einen Zug in die entgegengesetzte Richtung nahmen.
Sie fuhren sechs Stationen Richtung Norden bis Tenleytown, wo sie als einzige Passagiere ausstiegen. Es war eine ruhige, gepflegte Wohngegend. Ihr Ziel, das höchste Gebäude weit und breit, war sofort am Horizont sichtbar, am Nordende der Embassy Row im Winkel zwischen Massachusetts und Wisconsin Avenue inmitten einer ausgedehnten gepflegten Rasenfläche.
Nunmehr für ihre Verfolger ›aus dem Raster gefallen‹, wie Katherine es nannte, gingen die beiden über das nasse Gras. Zu ihrer Rechten befand sich ein Garten im mittelalterlichen Stil, berühmt für seine alten Rosenstöcke und eine Laube, ›Schattenpavillon‹ genannt. Sie ließen den Garten seitwärts liegen und gingen direkt auf das eindrucksvolle Gebäude zu, zu dem sie gebeten worden waren. Ein Refugium, das zehn Steine vom Berg Sinai enthält, einen aus dem Himmel selbst und einen mit dem Antlitz von Lukas’ dunklem Vater.
Katherine blickte zu den hell erleuchteten Türmen hinauf. »Spätabends bin ich noch nie hier gewesen«, sagte sie. »Ein spektakulärer Anblick.«
Langdon pflichtete ihr bei. Er hatte ganz vergessen, wie eindrucksvoll dieser Ort war. Er war seit Jahren nicht mehr hier gewesen; das letzte Mal, als er einen Beitrag für eine Kinderzeitschrift darüber geschrieben hatte in der Hoffnung, bei jungen Amerikanern ein wenig Interesse für dieses ungewöhnliche Bauwerk zu wecken. Sein Artikel – ›Moses, Mondsteine und Star Wars‹ – war inzwischen ein Standardtext in Touristenprospekten.
Die Washington National Cathedral, dachte Langdon und verspürte ein unerwartetes Hochgefühl, nach all diesen Jahren wieder hier zu sein. Wo könnte man besser nach dem Einen Wahren Gott fragen?
»Gibt es in dieser Kathedrale wirklich zehn Steine vom Berg Sinai?«, fragte Katherine, die den Blick nicht von den beiden Glockentürmen lassen konnte.
Langdon nickte. »In der Nähe des Hauptalters. Sie symbolisieren die Zehn Gebote, die Moses am Berg Sinai erhielt.«
»Und was ist mit dem Stein aus dem Himmel selbst?«
»Eines der Bleiglasfenster wird Space Window genannt und enthält eingebettet ein Stück Mondgestein.«
»Aber das mit dem ›dunklen Vater‹, das war doch sicher ein Scherz.« Katherine sah ihn an, und ihre hübschen Augen blitzten. »Eine Statue von Darth Vader?«
Langdon schmunzelte. »Luke Skywalkers dunkler Vater? Aber sicher. Das war kein Bezug auf die Bibel, sondern auf Star Wars. Vader ist einer der bekanntesten Gargoyles.« Er zeigte nach oben auf das Westwerk. »Da oben am Nordturm. Du kannst ihn von hier aus nicht sehen, aber er ist da.«
»Was um alles in der Welt hat Darth Vader an der Washington National Cathedral zu suchen?«
»Bei einem Wettbewerb für Kinder, einen Wasserspeier zu entwerfen, der das Gesicht des Bösen verkörpert, hat Darth gewonnen.«
Sie erreichten die Stufen des Hauptportals. Es lag in einem fast fünfundzwanzig Meter hohen Bogenfeld, das von einem atemberaubenden Rosenfenster umschlossen wurde. Als sie die Stufen hinaufstiegen, schweiften Langdons Gedanken zu dem mysteriösen Fremden, der ihn angerufen hatte. Keine Namen am Telefon. Sagen Sie mir – konnten Sie die Karte schützen, die Ihnen anvertraut wurde? Langdons Schulter schmerzte von der schweren Steinpyramide, die er in seiner Umhängetasche bei sich trug; er konnte es kaum erwarten, die Tasche endlich abzusetzen. Eine Zuflucht und Antworten.
Als sie den oberen Treppenabsatz erreichten, gelangten sie an eine große, zweiflügelige Portaltür. »Was jetzt?«, fragte Katherine. »Klopfen wir einfach an?«
Das hatte Langdon sich auch schon gefragt, doch ihm wurde die Entscheidung abgenommen, als sich jetzt eine der Türen knarzend öffnete.
»Wer ist da?«, sagte eine schwache Stimme. Im Türspalt erschien das verwitterte Gesicht eines alten Mannes. Er trug Priesterkleidung, und seine Augen starrten weiß und blind, umwölkt vom grauen Star.
»Mein Name ist Robert Langdon«, erhielt er zur Antwort, »und das ist Katherine Solomon. Wir bitten um Asyl.«
Der Blinde atmete auf. »Gott sei Dank. Ich habe Sie bereits erwartet.«
KAPITEL 80
Warren Bellamy verspürte einen plötzlichen Hoffnungsschimmer.
Im ›Dschungel‹ hatte Direktor Sato einen Anruf von einem ihrer Agenten erhalten und in den Hörer geschrien: »Dann bewegt eure Ärsche und findet sie, verdammt noch mal! Uns läuft die Zeit weg!«
Nun ging sie vor Bellamys Augen unruhig auf und ab, als versuche sie sich darüber klar zu werden, was sie als Nächstes tun solle.
Schließlich blieb sie direkt vor ihm stehen und wandte sich ihm zu. »Mr. Bellamy, ich frage Sie nur ein Mal.« Sie sah ihm scharf in die Augen. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wo Robert Langdon jetzt sein könnte?«
Bellamy hatte mehr als nur eine Ahnung, doch er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Satos durchdringender Blick wich nicht von seinem Gesicht. »Es ist Teil meines Jobs zu durchschauen, wann Menschen lügen – so wie Sie jetzt.«
Bellamy wandte den Blick ab. »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Architekt Bellamy«, sagte Sato, »heute Abend haben Sie kurz nach sieben Uhr, als Sie in einem Restaurant außerhalb der Innenstadt zu Abend speisten, einen Anruf von einem Mann erhalten, der Ihnen gesagt hat, er habe Peter Solomon entführt.«
Bellamy spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Er richtete den Blick wieder auf Sato. Woher weiß sie das?
»Dieser Mann«, fuhr Sato fort, »hat zu Ihnen gesagt, er habe Robert Langdon zum Kapitol geschickt, um dort eine Aufgabe zu lösen … eine Aufgabe, die Ihre Hilfe erfordere. Er hat Sie gewarnt, wenn Langdon bei dieser Aufgabe versage, werde Ihr Freund Peter Solomon sterben. Voller Panik haben Sie sämtliche Telefonnummern Solomons durchprobiert, ohne ihn erreichen zu können. Daraufhin sind Sie zum Kapitol gefahren, so schnell Sie konnten.«
Bellamy hatte keine Ahnung, wie Sato von diesem Anruf erfahren hatte.
»Als Sie aus dem Kapitol geflohen sind«, fuhr Sato unnachgiebig fort, »haben Sie Solomons Entführer eine Textnachricht geschickt, in der Sie ihm versicherten, Sie und Langdon hätten die Freimaurerpyramide in Ihren Besitz gebracht.«
Woher hat sie diese Informationen?, fragte sich Bellamy. Nicht einmal Langdon weiß, dass ich eine SMS geschickt habe.
Gleich nachdem sie den Tunnel zur Kongressbibliothek betreten hatten, war Bellamy kurz in einem Schaltraum verschwunden, um die Baustellenbeleuchtung einzuschalten. In diesem ungestörten Augenblick hatte er beschlossen, Peter Solomons Entführer eine kurze Textnachricht zu schicken, in der er ihn über Satos Verwicklung in die Angelegenheit informierte, ihm aber auch versicherte, dass er – Bellamy – und Langdon im Besitz der Freimaurerpyramide seien und seine Bedingungen erfüllen würden. Es war natürlich eine Lüge gewesen, doch Bellamy hatte gehofft, dies könne ihnen ein wenig Zeit verschaffen – sowohl Peter Solomon als auch Langdon und ihm –, um die Pyramide in Sicherheit zu bringen.
»Wer hat Ihnen das erzählt?«, wollte Bellamy wissen.
Sato warf Bellamys Handy auf die Bank neben ihm. »Das war technisch nicht allzu schwierig.«
Bellamy erinnerte sich nun daran, dass die Agenten ihm bei seiner Festnahme Handy und Schlüssel abgenommen hatten.
»Was den Rest meiner Insider-Informationen betrifft«, sagte Sato, »so gibt mir der Patriot Act das Recht, das Telefon einer jeden Person abzuhören, die ich als ernsthafte Bedrohung für die nationale Sicherheit einstufe. Ich betrachte Peter Solomon als eine solche Bedrohung und habe gestern Abend entsprechende Schritte eingeleitet.«
Bellamy traute seinen Ohren nicht. »Sie haben Peter Solomons Telefon abgehört?«
»Ja. Dadurch habe ich auch erfahren, dass der Entführer Sie im Restaurant kontaktiert hat. Sie haben Solomon auf dem Handy angerufen und eine besorgte Nachricht auf seiner Mailbox hinterlassen, in der Sie ihm mitgeteilt haben, was geschehen ist.«
Das erklärte natürlich einiges.
»Wir haben auch einen Anruf von Robert Langdon aus dem Kapitol abgefangen, der sehr verärgert war, dass man ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dorthin gelockt hatte. Ich habe mich sofort auf den Weg zum Kapitol gemacht und bin vor Ihnen dort eingetroffen, weil ich es nicht so weit hatte. Und wie ich dazu kam, mich für den Inhalt von Langdons Tasche zu interessieren? Nun, angesichts meines begründeten Verdachts,