Das verlorene Symbol - Kapitel 35
satt, Professor.«
Der OS-Direktor kam zurück in die Kammer, das Blackberry in der winzigen Hand, ein loderndes Feuer in den schwarzen Augen. Hilfe suchend blickte Langdon zu Anderson hinüber, doch der Chief stand mit wenig mitfühlender Miene an der Tür auf Posten.
Sato trat auf Langdon zu und hielt ihm ihr Blackberry vor das Gesicht.
Erstaunt blickte Langdon auf das Display, auf dem ein gespenstisch aussehendes Schwarz-Weiß-Negativ zu sehen war. Es zeigte ein Wirrwarr verschiedener Gegenstände, von denen einer besonders hell auf dem Foto leuchtete. Unverkennbar handelte es sich bei diesem Objekt um eine kleine, spitze Pyramide.
Langdon blickte Sato an. »Woher haben Sie das? Was ist das für eine Aufnahme?«
»Wie bitte?« Mit dieser Frage schien er Sato nur noch mehr zu reizen. »Sie wollen so tun, als wüssten Sie es nicht?«
Langdon riss der Geduldsfaden. »Verdammt noch mal, ich habe das noch nie gesehen!«
»Ach ja?«, versetzte Sato spitz. »Obwohl Sie es schon den ganzen Abend in Ihrer Tasche herumtragen?«
»Ich …« Langdon stockte mitten im Satz, senkte den Blick langsam auf seine Umhängetasche und hob ihn wieder zu dem Blackberry. Das Päckchen. Er schaute sich das Bild auf dem Blackberry genauer an und sah einen schemenhaft erkennbaren Würfel, der die Pyramide umschloss.
Jäh begriff Langdon, dass er ein Röntgenbild seiner Umhängetasche sah – und von Peters geheimnisvollem würfelförmigem Päckchen, das sich darin befand. Und dieser Würfel ist hohl und enthält eine kleine Pyramide …
Langdon öffnete den Mund, um Sato zu antworten, doch ihm stockte der Atem, als ihn die Erkenntnis traf.
Einfach. Sauber. Vernichtend.
Mein Gott. Wieder musterte er den Pyramidenstumpf auf dem Schreibtisch. Die Deckfläche war plan … ein kleines Quadrat … eine Leerstelle, die gefüllt werden wollte … von dem Bauteil, das die Pyramide vollständig machte …
Langdon begriff, dass der kleine Gegenstand in seiner Umhängetasche gar keine Pyramide war. Er war ein Deckstein.
Im selben Augenblick wusste Langdon, weshalb nur er die Geheimnisse dieser Pyramide enträtseln konnte.
Weil ich das letzte Teil habe.
Und es ist tatsächlich ein Talisman.
Als Peter ihm gesagt hatte, das Päckchen enthielte einen Talisman, hatte Langdon noch gelacht. Jetzt begriff er, dass sein Freund die Wahrheit gesagt hatte. Dieser kleine Deckstein war ein Talisman, aber nicht von der zauberkräftigen Art, sondern in der weit älteren Ausprägung. Lange bevor das Wort ›Talisman‹ mit Magie in Verbindung gebracht worden war, hatte es eine andere Bedeutung gehabt: ›Vollendung‹. Nach dem griechischen Wort ›telesmós‹, ›Vollendung‹, war ein Talisman jeder Gegenstand oder jede Idee, die irgendetwas vervollständigte oder ›ganz machte‹. Das abschließende Teil.
Nach dieser Definition war auch ein Deckstein ein Talisman, denn er vollendete eine Unvollendete Pyramide und verwandelte sie in ein Symbol, das höchste Perfektion versinnbildlichte.
Langdon sah sich gezwungen, eine eigenartige Wahrheit zu akzeptieren: Sah man von ihrer Größe ab, schien die steinerne Pyramide in Peters Dunkler Kammer sich Stück für Stück in etwas zu verwandeln, das vage der legendären Freimaurerpyramide ähnelte.
Der Deckstein war auf dem Röntgenbild so hell, dass er vermutlich aus Metall bestand … einem Metall von sehr hoher Dichte. Ob er nun aus massivem Gold war oder nicht, konnte Langdon nicht wissen, und er wollte sich von seiner Fantasie keine Streiche spielen lassen. Die Pyramide ist zu klein. Der Code ist zu leicht zu lesen. Und es ist ein Mythos, um Himmels willen!
Sato ließ ihn nicht aus den Augen. »Für einen klugen Mann haben Sie heute Abend viele dumme Entscheidungen getroffen, Professor Langdon. Eine leitende Geheimdienstlerin anlügen? Absichtlich eine CIA-Ermittlung behindern?«
»Lassen Sie es mich erklären«, sagte Langdon. »Die Sache ist die …«
»Erklären Sie es mir in Langley«, unterbrach Sato ihn kalt. »Sie sind festgenommen.«
Langdon erstarrte. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Es ist mir sogar todernst. Ich habe Ihnen von vornherein klargemacht, dass es heute Nacht um sehr viel geht, und Sie haben beschlossen, nicht mit mir zu kooperieren. Ich rate Ihnen gut: Überlegen Sie es sich, und erklären Sie mir, was diese Inschrift auf der Pyramide bedeutet. Denn wenn wir erst in Langley eintreffen«, sie hob ihr Blackberry und machte eine Nahaufnahme der Gravur auf der steinernen Pyramide, »haben meine Fachleute bereits einen Vorsprung.«
Langdon öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Sato wandte sich bereits Anderson zu, der noch immer an der Tür stand. »Chief«, sagte sie, »stecken Sie die Steinpyramide in Mr. Langdons Tasche, und nehmen Sie sie mit. Ich werde mich darum kümmern, dass Mr. Langdon in Gewahrsam genommen wird. Ihre Waffe bitte.«
Mit steinernem Gesicht trat Anderson in die Kammer und öffnete im Gehen das Schulterhalfter. Er gab seine Pistole Sato, die sie augenblicklich auf Langdon richtete.
Langdon erstarrte. Das darf doch nicht wahr sein.
Anderson trat zu ihm, zog ihm die Umhängetasche von der Schulter, ging damit zum Schreibtisch und setzte die Tasche auf einen Stuhl. Dann zog er den Reißverschluss auf, öffnete die Tasche, hob die schwere Steinpyramide vom Schreibtisch und legte sie mit einiger Mühe zu Langdons Aufzeichnungen und dem kleinen Paket.
Plötzlich war zu hören, wie sich auf dem Gang etwas bewegte. Der dunkle Umriss eines Mannes erschien in der Tür, kam in die Kammer gehuscht und rammte Anderson, der ihn gar nicht kommen sah, die Schulter in den Rücken. Der Chief stürzte nach vorn und schlug mit dem Schädel gegen die Kante der Steinnische. Sein Oberkörper kippte auf den Schreibtisch und wirbelte Knochen, Teller und andere Gegenstände umher. Die Sanduhr zerschellte auf den Steinen. Die Kerze fiel herunter und rollte, noch immer brennend, über den Boden.
Sato schwenkte die Waffe herum, doch der Eindringling packte einen Oberschenkelknochen, schlug damit zu und traf Sato an der Schulter. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus, ließ die Pistole fallen und taumelte zurück. Der Angreifer trat die Waffe zur Seite und fuhr zu Langdon herum. Der Mann war ein großer, schlanker Schwarzer, den Langdon noch nie zuvor gesehen hatte.
»Nehmen Sie die Pyramide!«, befahl der Mann. »Und kommen Sie mit!«
KAPITEL 42
Der hochgewachsene Schwarze führte Langdon durch das Labyrinth unter dem Kapitol. Der Mann schien sich bestens auszukennen, denn er wusste genau, welchen Nebengang er nehmen musste und welche abgelegenen Räume er zu durchqueren hatte. Außerdem hatte er einen Schlüsselring dabei, mit dem sich offenbar jede Tür aufschließen ließ, die ihnen den Weg versperrte.
Langdon folgte dem Mann zu einer Treppe irgendwo im Dämmerlicht dieser unterirdischen Welt. Als sie die Stufen hinaufstiegen, spürte er, wie der Lederriemen seiner Umhängetasche ihm in die Schulter schnitt. Die Steinpyramide war so schwer, dass Langdon fürchtete, der Riemen könnte reißen.
Sein Gefühl riet ihm, dem Fremden zu vertrauen. Der Mann hatte ihn nicht nur vor der Verhaftung durch Sato bewahrt – er hatte sich auch in Gefahr begeben, um Peter Solomons geheimnisvolle Pyramide zu schützen … was für eine Pyramide es auch sein mag.
So rätselhaft der Schwarze und seine Motive waren, wusste Langdon zumindest eines über ihn: Der Mann war Freimauer. Langdon hatte einen Goldring an der Hand des Mannes aufblinken sehen – einen Freimaurerring mit doppelköpfigem Phönix und der Zahl 33. Der Schwarze und Peter Solomon waren also mehr als nur Freunde, die einander vertrauten: Sie waren freimaurerische Brüder des höchsten Grades.
Langdon folgte dem Schwarzen ans obere Ende der Treppe, dann in einen anderen Korridor und schließlich durch eine unbeschriftete Tür in einen Gang, in dem ihnen ein moderiger Geruch entgegenschlug. Sie eilten an Kisten mit Hausmeisterbedarf und gefüllten Müllsäcken vorbei und gelangten schließlich durch eine weitere unbeschriftete Tür in eine völlig unerwartete Welt – eine Art nobel eingerichteten Kinosaal. Der Schwarze folgte einem Seitengang und führte Langdon durch die Eingangstüren des Saals in eine erleuchtete große Vorhalle. Langdon erkannte nun, dass sie sich in dem Besucherzentrum befanden, durch das er am gleichen Abend das Kapitol betreten hatte.
Leider befand sich hier auch ein Sicherheitsbeamter.
Die drei Männer blieben ob der unerwarteten Begegnung wie angewurzelt stehen und starrten einander an. Erst jetzt erkannte Langdon den jungen Latino, der bei seinem Eintreffen den Detektor bedient hatte.
»Officer Nuñez«, sagte der Schwarze. »Kein Wort. Folgen Sie mir.«
Nuñez machte ein beunruhigtes Gesicht, gehorchte dem Schwarzen jedoch ohne Widerrede.
Wer ist dieser Mann?, fragte sich Langdon.
Sie eilten zur Südostecke des Besucherzentrums, wo sie in ein kleines Foyer gelangten. Eine orangefarbene Absperrung blockierte eine schwere Flügeltür, die zusätzlich mit Malerkrepp beklebt war; offenbar sollte Staub von einer Baustelle hinter der Tür aus dem Besucherzentrum ferngehalten werden. Der Schwarze hob die Hand und zog das Krepp von der Tür ab. Dann suchte er an seinem Schlüsselring, während er zum Wachmann sprach. »Unser Freund Anderson ist im unteren Kellergeschoss. Er könnte verletzt sein. Sehen Sie nach ihm.«
»Jawohl, Sir.« Nuñez wirkte alarmiert.
»Vor allem haben Sie uns hier unten nicht gesehen. Klar?«
»Jawohl, Sir.«
Der Schwarze fand den Schlüssel, den er gesucht hatte, löste ihn vom Ring und schloss damit den schweren Riegel auf. Er öffnete die Stahltür und warf dem Wachmann den Schlüssel zu. »Schließen Sie hinter uns ab. Kleben Sie das Malerkrepp wieder an, so gut es geht. Stecken Sie den Schlüssel ein und sagen Sie niemandem ein Wort, auch nicht dem Chief. Ist das klar, Officer Nuñez?«
Der Wächter musterte den Schlüssel, als hätte man ihm gerade ein kostbares Juwel anvertraut. »Alles klar, Sir.«
Der Schwarze schritt eilig durch die Tür. Langdon folgte ihm, und Nuñez schloss hinter ihnen ab. Langdon hörte an dem Scharren hinter der Tür, dass Nuñez das Malerkrepp wieder anklebte.
»Es wird Zeit, dass ich mich vorstelle, Professor Langdon«, sagte der Schwarze, als sie mit eiligen Schritten über einen modern wirkenden Korridor gingen, der offenbar im Bau war. »Mein Name ist Warren Bellamy. Peter Solomon ist ein guter Freund von mir.«
Langdon blickte den würdevollen Mann erstaunt an. Das ist Warren Bellamy? Langdon war dem Architekten des Kapitols noch nie begegnet, hatten dessen Namen aber schon gehört.
»Peter hält große Stücke auf Sie«, fuhr Bellamy