Das verlorene Symbol - Kapitel 22
von den Augen.
Ich weiß, warum ich hier bin.
Er stand in der Mitte der Rotunde und verspürte das heftige Verlangen, sich umzudrehen und zu flüchten … vor Peters Hand, vor dem glänzenden Goldring, vor den argwöhnischen Blicken Satos und Andersons. Stattdessen stand er wie erstarrt und hielt seine Umhängetasche noch fester an sich gedrückt. Ich muss hier raus.
Langdon biss die Zähne aufeinander, als die Szene von jenem kalten Morgen damals in Cambridge noch einmal vor seinem geistigen Auge ablief. Es war sechs Uhr früh, und er betrat seinen Seminarraum, wie immer nach seinen morgendlichen Bahnen im Schwimmbad der Universität. Die vertrauten Gerüche von Kreidestaub und Dampfheizungswärme empfingen ihn auf der Schwelle. Nach zwei Schritten auf dem Weg zum Schreibtisch stockte er.
Jemand wartete auf ihn – ein eleganter Gentleman mit Adlergesicht und leuchtend grauen Augen.
»Peter?« Langdon starrte ihn bestürzt an.
Peter Solomons Lächeln blitzte in dem düsteren Raum auf. »Guten Morgen, Robert. Überrascht, mich zu sehen?« Sein Tonfall war gewinnend, strahlte zugleich aber Autorität aus.
Langdon eilte zu ihm und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Was um alles in der Welt hat alter Yale-Adel vor Morgengrauen auf dem Crimson Campus verloren?«
»Eine verdeckte Operation hinter den feindlichen Linien«, sagte Solomon lachend. Er deutete auf Langdons Taille. »Die Bahnen zahlen sich aus. Du bist gut in Form.«
»Ich lege es nur darauf an, dass du dich alt fühlst«, neckte Langdon. »Ich freue mich riesig, dich zu sehen, Peter. Was gibt’s denn?«
»Kurze Geschäftsreise.« Solomon blickte sich in dem leeren Seminarraum um. »Tut mir leid, dass ich einfach so hereinschneie, Robert, aber ich habe nur ein paar Minuten Zeit. Ich muss dich um etwas bitten … persönlich. Um einen Gefallen.«
Das ist das erste Mal. Langdon fragte sich, was ein einfacher College-Professor für den Mann, der alles hatte, überhaupt tun könnte. »Was immer du möchtest«, sagte er, erfreut, einmal etwas für den Mann tun zu können, der ihm schon so viel gegeben hatte, besonders als Peters glückliches Leben von einer Tragödie überschattet worden war.
Solomon senkte die Stimme. »Ich möchte dich bitten, auf etwas aufzupassen.«
Langdon verdrehte die Augen. »Nicht auf Herkules, hoffe ich.« Langdon hatte sich einmal bereit erklärt, Solomons siebzig Kilo schweren Mastiff zu hüten, wenn Peter auf Reisen war. In Langdons Wohnung hatte der Hund Sehnsucht nach seinem liebsten Lederspielzeug bekommen und einen würdigen Ersatz im Arbeitszimmer entdeckt – eine pergamentene, kalligrafierte und illuminierte Bibelhandschrift aus dem 17. Jahrhundert. ›Böser Hund‹ schien ihm nicht die adäquate Bezeichnung zu sein.
»Weißt du, ich suche noch immer nach einem Ersatz«, sagte Solomon und lächelte betreten.
»Vergiss es. Ich freue mich, dass Herkules Geschmack an der Religion gefunden hat.«
Solomon kicherte, wirkte jedoch abgelenkt. »Ich bin hier, Robert, weil ich dich bitten möchte, ein Auge auf etwas zu haben, das ziemlich wertvoll für mich ist. Ich habe es vor einiger Zeit geerbt, aber es behagt mir nicht mehr, es zu Hause oder im Büro zu lassen.«
Langdon war augenblicklich unwohl. In Peters Welt musste etwas ›ziemlich Wertvolles‹ ein Vermögen wert sein. »Wie wär’s mit einem Bankschließfach?« Ist deine Familie nicht bei der Hälfte aller amerikanischen Banken Aktionär?
»Das würde jede Mange Papierkram bedeuten. Ein vertrauenswürdiger Freund ist mir lieber. Und ich weiß, du kannst schweigen wie ein Grab.« Solomon griff in seine Tasche, zog ein kleines Päckchen heraus und reichte es Langdon.
Angesichts der dramatischen Vorrede hatte Langdon etwas Eindrucksvolleres erwartet als eine würfelförmige Schachtel von drei Zoll Kantenlänge, eingeschlagen in verblichenes braunes Packpapier und verschnürt mit Bindfaden. Nach dem Gewicht und der Größe zu urteilen, musste der Inhalt aus Stein oder Metall sein. Das ist es? Langdon drehte die Schachtel hin und her und sah, dass der Bindfaden an einer Seite sorgfältig mit einem Wachssiegel gesichert war wie ein altes Edikt. Das Siegel trug einen doppelköpfigen Phönix mit einer ›33‹ auf der Brust – das traditionelle Symbol des höchsten Freimaurergrades.
»Ach so, Peter«, sagte Langdon, während sich ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht stahl. »Du bist also der Meister vom Stuhl, nicht der Papst. Siegelst Päckchen mit deinem Ring, hm?«
Solomon blickte auf seinen goldenen Ring und lächelte. »Ich habe das Päckchen nicht versiegelt, Robert. Das war mein Urgroßvater. Vor fast einem Jahrhundert.«
Langdon hob ruckartig den Kopf. »Was?«
Solomon hielt den Ringfinger hoch. »Dieser Freimaurerring war seiner. Danach gehörte er meinem Großvater, dann meinem Vater … und schließlich mir.«
Langdon deutete auf das Päckchen. »Dein Urgroßvater hat das vor hundert Jahren eingepackt, und bis heute hat es niemand geöffnet?«
»So ist es.«
»Aber … warum nicht?«
Solomon lächelte. »Weil die Zeit noch nicht gekommen ist.«
Langdon starrte ihn an. »Die Zeit für was?«
»Robert, ich weiß, es klingt eigenartig, aber je weniger du weißt, desto besser. Leg es einfach an einen sicheren Platz und sag bitte keinem, dass ich es dir gegeben habe.«
Langdon suchte in den Augen seines Mentors nach einem schelmischen Funkeln. Solomon hatte einen Hang zum Dramatischen, und Langdon fragte sich, ob es nicht irgendeine clevere Masche seines Freundes war. »Bist du sicher, Peter, dass das nicht bloß ein Trick ist, um mir weiszumachen, man habe mir ein altes Freimaurergeheimnis anvertraut, damit ich neugierig werde und deinem Verein beitrete?«
»Die Freimaurer werben niemanden, Robert, das weißt du. Außerdem hast du mir schon gesagt, dass du es vorziehst, nicht beizutreten.«
Das stimmte. Langdon hatte großen Respekt vor der Philosophie und Symbolik der Freimaurer, hatte aber trotzdem beschlossen, sich nicht einweihen zu lassen. Wegen der Geheimhaltungsschwüre des Ordens hätte er mit seinen Studenten nicht mehr über die Freimaurerei sprechen dürfen. Aus demselben Grund hatte Sokrates abgelehnt, offiziell an den Eleusinischen Mysterien teilzunehmen.
Als Langdon nun die geheimnisvolle Schachtel und das Freimaurersiegel betrachtete, konnte er sich die naheliegende Frage nicht verkneifen. »Warum vertraust du sie keinem deiner Brüder an?«
»Sagen wir einfach, ich habe so eine Ahnung, dass sie außerhalb der Bruderschaft sicherer aufgehoben ist. Und lass dich bitte von der Größe des Päckchens nicht täuschen. Wenn es wahr ist, was mein Vater mir gesagt hat, enthält es etwas von beträchtlicher Macht.« Er zögerte. »Eine Art Talisman.«
Hat er Talisman gesagt? Ein Talisman war per definitionem ein Gegenstand mit magischen Kräften. Traditionell wurden sie benutzt, damit sie Glück brachten, böse Geister abhielten oder bei alten Ritualen dienten. »Dir ist doch klar, Peter, dass Talismane seit dem Mittelalter aus der Mode sind?«
Peter legte Langdon eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, wie sich das anhört, Robert. Ich kenne dich schon lange, und deine Skepsis ist eine deiner größten Stärken. Sie ist aber auch deine größte Schwäche. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass man dich nicht einfach bitten kann zu glauben … aber zu vertrauen. Darum bitte ich dich jetzt, mir zu vertrauen, wenn ich dir sage, dass dieser Talisman machtvoll ist. Mir wurde gesagt, er könne seinem Besitzer die Fähigkeit verleihen, aus dem Chaos Ordnung hervorzubringen.«
Langdon blickte ihn verwundert an. ›Ordnung aus Chaos‹ war einer der wichtigsten maurerischen Grundgedanken. Ordo ab chao. Daher war die Behauptung, ein Talisman könne überhaupt Macht ausüben, absurd – erst recht, wenn es um die Macht ging, Ordnung aus Chaos zu schaffen.
»Dieser Talisman«, fuhr Solomon fort, »wäre in den falschen Händen gefährlich, und leider habe ich Grund zu der Annahme, einflussreiche Leute wollen ihn mir stehlen.« Er blickte dabei vollkommen ernst. »Ich möchte, dass du ihn eine Zeit lang für mich aufbewahrst. Würdest du das tun?«
In jener Nacht saß Langdon allein an seinem Küchentisch und versuchte sich vorzustellen, was in dem rätselhaften Päckchen sein könnte. Am Ende hakte er es einfach als Peters Exzentrik ab und schloss das Päckchen im Wandsafe in seiner Bibliothek ein, um es irgendwann völlig zu vergessen.
Bis zu diesem Morgen.
Der Anruf von dem Mann mit dem Südstaatenakzent.
»Ach, Professor, beinahe hätte ich’s vergessen!«, hatte der Assistent gesagt, nachdem er Langdon die Reisearrangements genannt hatte. »Da ist noch eine Sache, um die Mr. Solomon gebeten hat.«
»Ja?«, sagte Langdon, in Gedanken bereits bei dem Vortrag, zu dem er sich bereit erklärt hatte.
»Mr. Solomon hat hier eine Notiz für Sie hinterlassen.« Der Mann fing stockend an zu lesen, als müsse er Peters Handschrift mühsam entziffern. »Bitten Sie Robert … das kleine versiegelte Päckchen mitzubringen, das ich ihm damals gegeben habe.« Der Mann schwieg kurz. »Sagt Ihnen das etwas?«
Langdon war überrascht, als ihm wieder einfiel, was seit damals in seinem Wandsafe lag. »Ja, durchaus. Ich weiß, was Peter meint.«
»Und Sie können es mitbringen?«
»Natürlich. Sagen Sie ihm, ich bringe es mit.«
»Wunderbar.« Der Assistent klang erleichtert. »Viel Spaß bei Ihrem Vortrag heute Abend. Gute Reise.«
Vor seiner Abreise hatte Langdon das Päckchen pflichtgemäß aus dem Safe genommen und in seine Umhängetasche gesteckt.
Jetzt stand er im Kapitol und wusste nur eins: Peter Solomon wäre entsetzt, wenn er wüsste, wie sehr sein Freund Robert Langdon ihn enttäuschte.
KAPITEL 25
Mein Gott, Katherine hatte recht. Wie immer.
Trish Dunne starrte entgeistert auf die Ergebnisse ihrer Spider-Suche, die auf der Plasmabildwand vor ihr aufgelistet wurden. Sie hatte bezweifelt, dass die Suche überhaupt irgendwelche Ergebnisse erbringen würde; inzwischen aber hatte sie mehr als ein Dutzend Treffer. Und es kamen immer noch weitere hinzu.
Ein Eintrag sah besonders vielversprechend aus.
Trish drehte sich um und rief in Richtung der Bibliothek: »Katherine? Ich glaube, du solltest dir das mal ansehen!«
Es war ein paar Jahre her, seit Trish einen Webcrawler wie diesen eingesetzt hatte, und die Ergebnisse des heutigen Abends verblüfften sie selbst. Vor ein paar Jahren wäre so eine Suche in einer Sackgasse geendet. Nun jedoch war die Menge des durchsuchbaren Materials weltweit explosionsartig gewachsen – so sehr, dass man praktisch alles finden konnte. Es war unglaublich; eines der Schlüsselwörter war ein Wort, das Trish noch nie zuvor gehört hatte … und der Spider selbst hatte es aufgestöbert.
Katherine erschien in der Tür des Kontrollraums. »Was hast du gefunden?«
»Einen