Das verlorene Symbol - Kapitel 100
Fresko zierten.
Langdon kehrte Katherine den Rücken zu, das Gesicht zur Wand, und flüsterte: »Katherine, hier spricht dein Gewissen. Warum hast du Robert allein gelassen?«
Katherine schien mit den erstaunlichen akustischen Eigenschaften der Kuppel vertraut zu sein, denn die Wand flüsterte zurück: »Weil Robert ein Angsthase ist. Er sollte zu mir rüberkommen. Wir haben noch jede Menge Zeit, bevor wir die Tür öffnen dürfen.«
Langdon wusste, dass sie recht hatte. Widerwillig machte er sich auf den Weg um den Balkon herum, wobei er sich so nahe an die Wand drückte, wie er konnte.
»Das Gemälde ist wundervoll«, sagte Katherine beinahe ehrfürchtig und reckte den Hals, um die ganze Pracht der Apotheose in sich aufzunehmen. »Antike Götter neben genialen Erfindern und ihren Schöpfungen. Wenn man bedenkt, dass dieses Gemälde das Zentrum unseres Kapitols bildet …«
Langdon richtete den Blick nach oben auf die gewaltigen Gestalten Franklins, Fultons und Morses mit ihren technischen Errungenschaften. Ein strahlender Regenbogen ging von ihnen aus und lenkte das Auge des Betrachters auf George Washington, der auf einer Wolke gen Himmel fuhr. Das große Versprechen der Vergöttlichung des Menschen.
»Es ist«, sagte Katherine, »als würde die Essenz der Alten Mysterien über der Rotunde schweben.«
Wie Langdon wusste, gab es nicht viele Fresken auf der Welt, die wissenschaftliche Erfindungen mit antiken Göttern und menschlicher Apotheose verschmolzen. Die spektakuläre Bildersammlung unter der Kuppeldecke war in der Tat eine Botschaft der Alten Mysterien. Für die Gründerväter war Amerika wie eine leere Leinwand gewesen, ein Feld, auf dem man die Saat des Wissens ausbringen konnte. Heutzutage schwebte diese Ikone – der Vater der Nation auf dem Weg in den Himmel – über jenen Männern und Frauen, die nunmehr die gesetzgeberische und politische Macht im Lande ausübten. Es war eine kühne Erinnerung, eine Karte, die den Weg in die Zukunft wies, ein Versprechen, dass der Mensch dereinst vollkommene spirituelle Reife erreichen würde.
»Das Gemälde ist in der Tat prophetisch, Robert«, flüsterte Katherine. »Heutzutage nutzt der Mensch seine fortschrittlichsten Erfindungen, um die ältesten Ideen zu studieren. Noetik als wissenschaftliche Disziplin mag neu sein, aber im Grunde ist sie die älteste Wissenschaft der Welt – das Studium des menschlichen Denkens.« Sie drehte sich zu Langdon um. Ein Ausdruck tiefen Staunens lag in ihren Augen. »Und was erfahren wir dabei? Dass die Alten das Denken besser begriffen haben als wir selbst.«
»Und dafür gibt es eine Erklärung«, erwiderte Langdon. »Der menschliche Geist war das einzige Hilfsmittel – die einzige Technologie sozusagen –, das den Alten zur Verfügung stand. Und diese Technologie, den menschlichen Verstand, haben die antiken Philosophen voller Hingabe studiert.«
»Ja. Viele Autoren antiker Texten sind geradezu besessen von der Kraft und Macht des menschlichen Geistes. Die Veden erzählen vom Fluss geistiger Energie. In der Pistis Sophia wird das universale Bewusstsein beschrieben. Der Zohar erkundet die Natur des Geistes. In schamanistischen Texten wird die Fernheilung beschrieben und damit Albert Einsteins ›spukhafter Fernwirkung‹ vorgegriffen. Es ist alles schon da! Und dabei habe ich mit der Bibel noch gar nicht angefangen.«
»Du also auch?« Langdon lachte leise. »Dein Bruder hat bereits versucht, mich davon zu überzeugen, dass die Bibel voller wissenschaftlicher Informationen steckt.«
»So ist es ja auch«, sagte Katherine. »Und wenn du Peter nicht glaubst – lies Newtons esoterische Texte zur Bibel. Wenn du die kryptischen Gleichnisse in der Bibel erst einmal verstehst, wirst du erkennen, dass sie eine Studie des menschlichen Geistes ist.«
Langdon zuckte mit den Schultern. »Dann sollte ich sie wohl noch einmal lesen.«
»Ich möchte dich etwas fragen.« Katherine schien Langdons Skepsis nicht zu gefallen. »Wenn es in der Bibel heißt ›geh, und baue unseren Tempel‹, einen Tempel, den wir ›errichten müssen, ohne Werkzeuge und ohne ein Geräusch zu machen‹ – von was für einem Tempel ist die Rede? Was glaubst du?«
»Nun, in der Bibel heißt es, dass wir Gottes Tempel sind.«
»Ja, im ersten Korintherbrief, Kapitel 1, Vers 16. Im Evangelium des Johannes steht sinngemäß das Gleiche. Die Heilige Schrift ist sich der Macht, die in uns schlummert, durchaus bewusst, und sie drängt uns, dass wir uns diese Macht zu eigen machen und den Tempel unseres Geistes errichten.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Langdon und rieb sich das Kinn. »Ich bin kein Religionswissenschaftler, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Heilige Schrift in allen Einzelheiten einen physischen Tempel beschreibt, der errichtet werden muss. Das Gebäude wird als zweiteilig beschrieben – ein äußerer Bereich, den man die Heilige Halle nennt, und ein innerer Teil, das Allerheiligste. Beide Teile sind durch einen dünnen Schleier voneinander getrennt.«
Katherine lächelte. »Für einen Bibelskeptiker hast du ein ziemlich gutes Gedächtnis. Sag mal, hast du je ein menschliches Gehirn gesehen? Wie du weißt, besteht es aus zwei Teilen – einem äußeren, der Dura mater, und einem inneren, der Pia mater heißt. Diese beiden Teile werden von der Arachnoidea getrennt, einem dünnen Schleier aus netzartigem Gewebe.«
Noch während Langdon Katherines Worte in sich aufnahm, musste er an das gnostische Evangelium der Maria denken: Wo der Geist ist, da ist der Schatz.
»Vielleicht«, sagte Katherine, »hast du schon mal davon gehört, dass man bei Yogis, die im Zustand meditativer Versunkenheit waren, Hirnscans gemacht hat. In fortgeschrittenen Stadien der Meditation bildet das menschliche Hirn in der Zirbeldrüse eine wachsartige Substanz. Sie ist einzigartig, mit nichts anderem im menschlichen Körper zu vergleichen, und besitzt eine unglaubliche Heilwirkung: Sie kann Zellen regenerieren und ist möglicherweise einer der Gründe, weshalb Yogis ein so hohes Alter erreichen. Das ist wahre Wissenschaft, Robert. Und diese Hirnsubstanz mit ihren unvorstellbaren Eigenschaften kann nur von einem Geist erzeugt werden, der sich im Zustand vollkommener Konzentration befindet.«
»Ich kann mich erinnern, vor ein paar Jahren etwas darüber gelesen zu haben, aber …«
»Bist du mit dem biblischen Bericht über das ›Manna vom Himmel‹ vertraut, Robert?«
Langdon sah keine Verbindung. »Du meinst die magische Substanz, die vom Himmel fiel, um die Hungrigen zu nähren?«
»Ja. Es hieß von dieser Substanz, sie heile die Kranken, schenke ewiges Leben und erzeuge keine Ausscheidungen.« Katherine hielt inne, als warte sie auf eine Erwiderung. »Robert?«, hakte sie dann nach. »Eine Nahrung, die vom Himmel fiel?« Sie tippte sich an die Schläfe. »Die den Leib auf magische Weise heilt? Und die keine Ausscheidungen hinterlässt? Verstehst du denn nicht? Das sind Codewörter, Robert! Tempel steht für ›Körper‹. Himmel steht für ›Geist‹. Die Jakobsleiter ist dein Rückgrat, und Manna ist dieses einzigartige Hirnsekret. Wenn du diese Codewörter in der Heiligen Schrift siehst, schau genauer hin. Häufig bezeichnen sie eine Stelle, an der sich unter der Oberfläche eine tiefere Bedeutung verbirgt.«
Katherine war jetzt nicht mehr zu bremsen. Sie erklärte, dass diese magische Substanz in fast allen Mythologien erwähnt werde, unter unterschiedlichen Namen: Götternektar, Elixier des Lebens, Jungbrunnen, Stein der Weisen, Ambrosia … Und das Allsehende Auge, fuhr sie fort, sei ein Symbol für die Zirbeldrüse. »Bei Matthäus 6, Vers 22, heißt es: ›Wenn dein Auge sehend ist, so wird dein ganzer Leib Licht sein.‹ Dieses Konzept wird auch durch das Ajna Chakra repräsentiert oder den Punkt auf der Stirn eines Hindus …«
Unvermittelt hielt Katherine in ihrem Redefluss inne. »Tut mir leid. Ich weiß, ich fasele. Aber ich finde das alles ungeheuer aufregend. Jahrelang habe ich die Behauptung der Alten studiert, der Mensch verfüge über ungeheure geistige Macht, und nun zeigt uns die Wissenschaft, dass der Zugriff auf diese Macht ein physischer Prozess ist. Richtig eingesetzt, kann das menschliche Hirn Kräfte heraufbeschwören, die im wahrsten Sinne des Wortes übermenschlich sind. Wie andere antike Texte ist auch die Bibel eine detaillierte Darstellung der ausgefeiltesten und wunderbarsten Schöpfung des Universums … des menschlichen Geistes.« Sie seufzte. »Leider hat die Wissenschaft bis jetzt nur an der Oberfläche seines Potenzials gekratzt.«
»Demnach bedeuten die Ergebnisse deiner noetischen Forschungen einen Quantensprung nach vorn«, sagte Langdon.
»Oder zurück«, sagte Katherine. »Die Alten kannten bereits viele der Wahrheiten, die wir jetzt erst wiederentdecken. In ein paar Jahren wird der moderne Mensch akzeptieren müssen, was heute noch undenkbar ist: Unser Geist vermag eine Energie zu erzeugen, die in der Lage ist, Materie zu transformieren.« Erneut hielt sie inne. »Partikel reagieren auf unsere Gedanken. Das heißt, dass wir durch unsere Hirnaktivität die Macht haben, die Welt zu verändern.«
Langdon lächelte.
»Was grinst du so? Meinen bisherigen Forschungsergebnissen zufolge bin ich überzeugt davon«, sagte Katherine. »Gott ist real – eine geistige Energie, die alles durchdringt. Und wir, als Menschen, sind nach diesem Bild erschaffen worden.«
»Erschaffen nach dem Bild geistiger Energie?«
»Genau. Unsere Körper haben sich über Äonen hinweg entwickelt, doch es war unser Geist, der nach Gottes Bild erschaffen wurde. Wir haben die Bibel zu wörtlich genommen. Dort steht, dass Gott uns nach seinem Bild erschaffen habe – nur ist damit nicht unser Körper gemeint, sondern unser Geist.«
Langdon schwieg.
»Das ist ein großes Geschenk, Robert, und Gott wartet darauf, dass wir es verstehen. Auf der ganzen Welt schauen wir in den Himmel und warten auf Gott … ohne zu erkennen, dass in Wahrheit Gott auf uns wartet.« Katherine ließ ihre Worte einwirken. »Wir sind Schöpfer, und doch spielen wir in unserer Naivität die Rolle der Geschöpfe. Wir betrachten uns als hilflose Schafe, die von Gott, der uns erschaffen hat, umhergescheucht werden. Wir knien wie verängstigte Kinder vor ihm nieder und betteln um Hilfe, Vergebung und Glück. Doch wenn wir uns bewusst machen, dass wir nach dem Bild des Schöpfers erschaffen worden sind, werden wir verstehen, dass auch wir selbst Schöpfer sein müssen. Erst wenn wir das begreifen, steht uns Menschen die Tür offen, unser gesamtes Potenzial zu nutzen.«
Langdon erinnerte sich an ein Zitat des Philosophen Manly P. Hall: Wenn der Unendliche nicht gewollt hätte, dass der Mensch weise ist, er hätte ihm nicht die Fähigkeit des Wissens verliehen. Langdon schaute erneut zur Apotheose